Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (77)
"Regula", wiederholte Kurtchen.
"Warum nicht", sagte Gernolf, der Kurtchens Wiederholung ganz zutreffend als Frage aufgefaßt hatte. "Selten, aber nicht so behindert modisch und distinktionsverkrampft, wie es in unseren Kreisen heutzutage Sitte ist."
"Außerdem irgendwie schweizerisch."
"Ich steh auf die Schweiz", gab Gernolf zu. "Ein sagenhaft designtes Land. Österreich dagegen hat praktisch überhaupt kein Design. Ein Schweizer Bahnhof ist allein der überlegenen Grafik wegen immer ein Vergnügen, ein Bahnhof in Österreich dagegen kann so sauber sein, wie er will, er sieht immer verlottert aus, weil das Design Scheiße ist. Dasselbe gilt im großen und ganzen für die Länder insgesamt."
Kurtchen schwieg, diesen Vortrag hatte der Freund schon häufiger gehalten. Gleich käme der Teil mit dem Eisenbahnlogo.
"Brauchst dir nur die Logos der Eisenbahnen ansehn", sagte Gernolf und sah wie zum Zeichen, daß ihn die Sache eigentlich gar nicht interessiere und er sich und kollateral auch Kurtchen mit seinem Vortrag bloß die Zeit vertreibe, wieder aus dem Fenster, wo das Grün noch sommerlich war, die Luft aber bereits blau und herbstlich in die Nase stieg. Kurtchen fiel ein, wie sehr er früher diese beiden Momente geliebt hatte: diesen späten, von Tucholsky als fünfte Jahreszeit verewigten und, erst recht, den verwandten im Vorfrühling, wenn es, abends, zum ersten Mal nach Sommer roch, nach Erde, Dunst und Räuschen unter Bäumen; und das Herz vor Sehnsucht sprang. So egal ihm das Älterwerden war – jedenfalls solange er noch ohne Treppenlift seine fünf Stockwerke hochkam und seine Zähne mehrheitlich im Original waren –, ja, so sehr er sich darüber freute, daß der Klammergriff des Sexus nicht mehr ganz so schmerzhaft preßte und er, Kurtchen, Anlaß hatte zu vermuten, der Pubertät, auch der späten, die gerade unter den Besten so lange mahlt und wütet, nun aber doch entkommen zu sein, so sehr vermißte er das Loch, das früher Frühlingsnächte in ihm rissen und das, wie die Grube mit Grundwasser, mit ungelebtem Leben drängend vollief.
"Das ÖBB-Logo, wie mit Photoshop im Kaffeehaus zusammengefingert", redete Gernolf im Hintergrund trostreich auf die Scheibe ein, "das würde ich jedem Grafikstudenten als vollkommen inakzeptabel um die Ohren hauen, weil es nämlich bloß irgendwie ausschaut, wie das Logo irgendeines mittelständischen Fleischfabrikanten, wo dann Fleisch und mehr Punktpunktpunkt druntersteht. Da ist die halbe Idee, die drinsteckt, fast schlimmer als gar keine Idee. Das Logo der SBB dagegen: Da möchte ich schon Zugfahren, wenn ich das nur sehe, da ist, wenn ich mal so vulgärhegelisch extemporieren darf, eine Idee zur Wirklichkeit gelangt, die Idee von Schönheit und Moderne und Fortschritt nämlich. Das einzige, was bei den ÖBB zur Wirklichkeit gelangt, ist Österreich als Designschrotthaufen."
Schloß Gernolf herzlich und suchte, gewissermaßen beifallheischend, wieder Blickkontakt. (wird fortgesetzt)