Martin Sonneborns Bericht aus Brüssel
Folge 26: Zwischen Straßburg (Plenarsaal), Brüssel (Büro) und Berlin (Gaststätte Zum Hecht). Der Bericht aus der aktuellen Oktoberausgabe der TITANIC in voller Länge: hier!
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© Jochen Quast
Passend zum Buchmessenmonat verzichtet TITANIC auf unbeschriebene Blätter. Kein Geringerer als Gerhard Henschel ist der Einladung des Bockenheimer Blödelblättchens zu seiner Club-Voltaire-Show im Oktober gefolgt. Der Kasseler Literaturpreisträger von 2023 hat mit dem "Schelmenroman" jüngst den zehnten Band seiner autobiografischen Romanreihe um sein Alter Ego Martin Schlosser vorgelegt. Seien Sie live dabei, wenn er vielleicht sogar Anekdoten für sein nächstes Buch, den "Clubroman", sammelt – je nachdem wie dusselig sich die anderen Egos aus der TITANIC-Redaktion auf der Bühne anstellen werden.
Mit Laura Brinkmann, Torsten Gaitzsch, Julia Mateus, Leo Riegel, Daniel Sibbe und Stargast Gerhard Henschel.
Am Dienstag, den 08. Oktober um 20:30 Uhr im Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5, 60313 Frankfurt am Main.
Alle Infos zur Veranstaltung hier!
Ungewißheit am Morgen (Teil 2)
Meine mentalen Bemühungen glichen in etwa den körperlichen Anstrengungen eines unter Obstipation leidenden Menschen. Ich versuchte, mir meine Lebensverhältnisse ins Gedächtnis zu rufen. Vor etwa sechs Wochen war ich in dieses Haus gezogen, soviel stand fest. Die Vermieterin hatte mir in groben Zügen die Nachbarschaft erklärt: „Das einzig Aufregende weit und breit ist hier die Straßenlaterne. Und im Louvre können Sie nachts bequem Großspenden aus Holz annehmen.“ Bei der nächsten Gelegenheit aber hatte sie im Brustton der Überzeugung dementiert: „Es wäre übertrieben zu behaupten, im Louvre könne man nachts bequem Großspenden aus Holz annehmen.“ Ich fand, daß es insgesamt zuviel Ungewißheit in meinem Leben gab.
Da betrat unversehens jemand den Raum – die Vermieterin!
„Es ist Zeit“, sagte sie zu mir, „wir müssen gehen.“ Morgens pflegten wir wegen des Kuh-Orakels immer den Bauernhof aufzusuchen. Automatisch erhob ich mich von der Couch. ‚Halt’, dachte ich, ‚das Kabel! Ich kann doch gar nicht mitgehen.’
Die Vermieterin sah mich streng an. „Was haben Sie denn da?“ fragte sie und zog kopfschüttelnd das Kabel aus meinem Pulloverärmel. Es ging ganz leicht und schmerzlos. „Los jetzt“, insistierte die Vermieterin. Dann gingen wir zum Bauernhof am Ende der Straße. Der Zweck unseres allmorgendlichen Besuchs bestand in der Deutung der Zeichen und Buchstaben, die über Nacht auf dem Fell einer weißen Kuh zu entstehen pflegten. Ich war erleichtert, daß mich der normale Alltag wiederhatte.
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Am Mittwochabend hat die Bundespolizei zeitweise einen Bahnsteig am Hamburger Hauptbahnhof gesperrt. Ein mit dem ICE angereister Mann war möglicherweise mit dem hochansteckenden Marburg-Virus infiziert. Er sprach in einem bizarren mittelhessischen Dialekt und bestand gegenüber den Gesundheitsbehörden darauf, dass er selbstverständlich Student sei und in der "Oberstadt" wohne, obwohl seine Papiere das nicht belegen konnten. Die Behörden haben mittlerweile Entwarnung gegeben. Auch von einem in Marburg grassierenden Hamburg-Virus, das meist mit dem Singen von Shantys, einer Vorliebe für scheußliche Musicals und wenig erfolgreiche Fußballclubs sowie mit stark entzündeten Pfeffersäcken einhergeht, kann keine Rede sein.
DSch
Prioritäten
"Entweder duschen oder Fortnite."
Henry ist 12 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 17 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Henry wäscht sich nicht gerne. Das hat er noch nie. Wie oft habe ich ihm schon ans Herz gelegt, wenigstens zu testen, ob es etwas für ihn ist, sich nach dem Toilettengang die Hände zu waschen. Keine Chance. Wenigstens zum Duschen konnte ich ihn über Jahre bewegen, indem ich nach jeder Dusche seinem Tipico-Guthaben ein paar Euro hinzufügte. Mir war lange nicht bewusst, wie wertvoll es war, mit dieser kleinen Investition seinen Körpergeruch einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Dann hörte Henry plötzlich auf zu duschen. "Ich habe keine Zeit mehr dafür", erklärte er. Er müsse jetzt Prioritäten setzen, um in der Schule nicht sitzenzubleiben. "Ich muss mich entscheiden – entweder ich dusche nicht, oder ich spiele kein Fortnite."
Für mich grenzt es an ein Weltwunder, dass Henry sich überhaupt für seine Noten interessiert. Ich bin davon ausgegangen, dass er nach der Schule eh einen kriminellen Karriereweg einschlagen möchte. Aber sicher ist es nicht schlecht, erst mal BWL zu studieren, bevor er ein Enkeltrick-Business startet. Trotzdem stellt mich seine Entscheidung vor ein Dilemma. Ich verstehe, dass Henry Zeit investieren muss, um seine Noten zu verbessern. Immerhin muss er zum ersten Mal Hausaufgaben machen, Vokabeln lernen, Pläne schmieden, wie er seine Lehrer manipuliert. Aber ist Henrys unerträglicher Körpergeruch wirklich der Preis, den wir alle dafür zahlen müssen?
Henrys stinkt mittlerweile so sehr, dass alle Pflanzen in seiner Nähe eingehen – sogar das sonst so stabile Basilikum. Das war zu erwarten bei einem pubertären Jugendlichen, bei dem sich ein veränderter Hormonhaushalt und fehlende Hygiene auf Augenhöhe treffen. Als ich ihn neulich in der Küche traf und mir sein beißender Gestank wie eine Abrissbirne entgegenschlug, wurde ich sogar kurz ohnmächtig. Irgendwann traute ich mich, vorsichtig nachzufragen, ob er nicht wenigstens kleinere hygienische Maßnahmen unternehmen wolle. Ich bot an, ihn mit dem Hochdruckreiniger abzuspritzen. "Dann kann ich ja gleich die Schule abbrechen", sagte er trotzig. Nachdem es auch keinen Unterschied gemacht hatte, heimlich einen Duftbaum in seine ungekämmten Haare einzuflechten, gab ich auf. Ich hatte es versucht.
Ich vermute, Henry weiß nicht, dass er stinkt. Er hätte draufkommen können – schließlich trage ich seit kurzem in seiner Nähe eine Atemschutzmaske. Leider war er noch nie besonders schlau. Er wird es spätestens realisieren, wenn er in der Schule gemobbt wird. Ich weiß doch, wie es läuft. Ich hätte Henry auf jeden Fall gemobbt. Ist es meine Aufgabe als Mutter, das zu verhindern? Ich weiß nur, dass ich nicht schuld daran sein möchte, dass mein Sohn sitzenbleibt. Ich möchte meinen Kindern überhaupt keinen Grund geben, später einen Therapeuten aufsuchen zu müssen. Henry hat gelernt, Prioritäten zu setzen. Darauf kann er stolz sein. Wenn er sich sicher ist, dass es für ihn der einzige Weg ist, um besser in der Schule zu werden, muss ich ihm vertrauen.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.