Inhalt der Printausgabe
Martin Sonneborn (MdEP)
Bericht aus Brü… äh: Bergkarabach
Brüssel, Parlament
»Außenpolitik, Hoffmann, müsste ich nicht langsam mal Außenpolitik machen?« Mein Büroleiter schaute überrascht auf: »Merkel ist demnächst im Kaukasus unterwegs, wir könnten hinterherreisen und die Scherben zusammenkehren.«
Außenpolitik gilt in unserer Branche als Königsdisziplin; Außenpolitiker sind in der Regel beliebt, selbst wenn sie Pfeifen sind wie Maas.
»Merkel fährt nach Georgien, Armenien, Aserbaidschan… Die Lobbyorganisation der Armenier lädt übrigens gerade ein, habe ich auf dem Place Lux gehört«, sagt Hoffmann.
Aserbaidschan? Baku war natürlich ein interessantes Ziel. Immerhin gab der verrückte Diktator Alijew, der das ölreiche Land 2003 von seinem Vater geerbt hatte, ein Vermögen an Bestechungsgeldern aus, um den Anschein von Zivilisation und Rechtsstaatlichkeit erwecken zu lassen. Alijew hatte seine Frau zu seiner Stellvertreterin ernannt; eine Konstellation, die es ihm locker erlaubte, auf eine weitere Opposition im Parlament zu verzichten.
Hatte ich nicht kürzlich noch gelesen, dass der Europarat* der CDU-Bundestagsabgeordneten Karin Strenz Hausverbot erteilte, weil sie größere Summen Bestechungsgeldes aus Aserbaidschan erhalten hatte – und dafür u.a. ihre offiziellen Wahlbeobachtungen dort champagnertrinkend aus einer Bar heraus vorgenommen hatte? Ihr Kollege Lintner (CSU) hatte Berichten der »Zeit« zufolge zwischen 2012 und 2014 über Briefkastenfirmen in Großbritannien fast 820 000 Euro aus Baku kassiert.
Dafür wurden dem autokratischen System »Schritte nach vorn zu freien, fairen und demokratischen Wahlen« bescheinigt – während die FAZ von Wahlen sprach, »die diesen Namen nicht verdienen«. Gedeckt wurde alles von Pedro Agramunt, einem äußerst dubiosen Spanier, 2016 und 2017 Vorsitzender der Europäischen Volkspartei EVP (CDU und Freunde) und Präsident des Europarats, der seiner Amtsenthebung nur knapp durch einen Rücktritt zuvorkam.
→ Sachdienlicher Hinweis von Lobby Control
Mangelnde Aufarbeitung in Deutschland »Es ist beschämend für ein Parlament wie den Bundestag, eine solche Affäre einfach aussitzen zu wollen«, sagt Timo Lange von LobbyControl. »Während der Europarat Hausverbote erteilt hat und sich um die Aufarbeitung bemüht, ist aus dem Bundestag nur Schweigen zu vernehmen.« Dies beträfe vor allem die Unionsfraktion.
→ Sachdienlicher Hinweis des »Tagesspiegel«
Mehrere Zeugen gingen offenbar davon aus, Pedro Agramunt sei in Baku auch mit Diensten von Prostituierten bestochen worden. Ein Zeuge sah ihn mit drei jungen Frauen in seinem Hotelzimmer verschwinden. Die Kommission betonte jedoch, es gebe keine Beweise, dass hier Korruption eine Rolle spielte. Auch der Schweizer Ex-Abgeordnete Dick Marty berichtete, während eines offiziellen Besuchs in Baku habe es nachts um eins an der Tür seines Hotelzimmers geklopft. »Er guckte durch den Türspion und sah eine Platte mit einer Flasche Champagner und zwei kaum bekleidete junge Frauen. Er machte die Tür nicht auf.«
Ein früherer aserbaidschanischer Botschafter sagte aus, für das »schmutzige Lobbying« seines Landes hätten 30 Millionen Euro zur Verfügung gestanden.
→ Sachdienlicher Hinweis von N-TV und Telepolis
Recherchen der »Süddeutschen Zeitung« und des »Guardian« zeigen, dass Präsident Ilham Alijew hohe Geldsummen aufbrachte, um sich gutes Ansehen in der europäischen Politik zu erkaufen. Insgesamt sollen es rund 2,5 Milliarden Euro gewesen sein. Das Geld wurde verwendet, um westliche Politiker und Journalisten gewogen zu halten.
→ Sachdienlicher Hinweis des Deutschlandfunks
Der Europarat hat seine Seele an ein autokratisches Regime verkauft Teure Geschenke, Gold, Überweisungen – wer sich mit autokratischen Regimen wie Aserbaidschan im Europarat gut stellte, profitierte in vielerlei Weise. Der italienische EVP-Politiker Luca Volontè, Vorgänger von Axel Fischer an der EVP-Fraktionsspitze, muss erklären, wofür er 2,4 Millionen Euro aus Baku erhalten hat.
Andererseits will man bei Staatsbesuchen doch nachts schlafen, und nicht andauernd von jungen Frauen herausgeklopft werden, die sich unglücklich aus ihrem Hotelzimmer ausgesperrt haben. »Wenn die Kollegen von CDU und CSU so vertrauensvoll mit der Diktatur in Aserbaidschan zusammenarbeiten, dann sollten wir uns mal die Gegenseite anschauen, also Armenien. Wenn ich mich recht erinnere, stehen hier auch Islam gegen Christentum, großtürkische Interessen gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Goliath gegen David. Russland garantiert im Moment den Status quo, in dem es Angriffswaffen an Aserbaidschan liefert und Verteidigungswaffen an Armenien…«
»Armenien hat gerade eine vollkommen friedliche ›samtene Revolution‹ hinter sich«, wirft meine europapolitische Beraterin ein, »der neue Ministerpräsident Nikol Paschinjan, der übrigens in den Medien alternierend als ›armenischer Che Guevara‹ und ›armenischer Gandhi‹ bezeichnet wurde, ist auf außerparlamentarischen Druck hin gewählt worden, weil er versprochen hat, die Korruption zu bekämpfen. Fun Fact: Sein Gegner Robert Kotscharjan, der ehemalige Präsident, hat die Gegenposition vertreten – Korruption sei in entwickelten Demokratien doch eigentlich normal, man müsse nur in die USA schauen, nach Deutschland, nach Frankreich…«
→ Sachdienlicher Hinweis von »Spiegel online«
Paschinjan ist es gelungen, den Druck auf der Straße hoch zu halten – das ist sein politisches Kapital. »Er hat die regierungskritische Energie versammelt und ihr eine Richtung gegeben«, sagt Arthur Atanesyan, Soziologie-Professor an der Staatlichen Universität Eriwan. Paschinjan präsentierte sich als Mann des Volkes: Mit grauem Bart, Baseball-Cap, T-Shirt in Tarnfarben, Rucksack und mit einem Megafon in der Hand marschierte er vorneweg und wirkte eher wie ein Rebellenführer denn ein Oppositionspolitiker. Demonstrationserfahrung hat er jahrelang gesammelt. 2008 organisierte er Straßenproteste gegen Wahlbetrug und landete dafür im Gefängnis. Als Journalist schrieb er früher gegen die Korruption an, was ihm nicht nur Geldund Haftstrafen einbrachte – eines Tages explodierte sein Auto.
Parlament, Büro
Zwei Vertreter der European Armenian Federation (EAFJD) sitzen in meinem Büro. Die Situation ist nicht ganz unkomisch, Kaspar Karampetian ist ein korpulenter, etwa 65jähriger Grieche mit armenischen Wurzeln, der haargenau so aussieht, wie man sich einen korrupten Lobbyisten vorstellt. Begleitet wird er von der vielleicht 40 Jahre jüngeren Armenierin Heghine Evinyan. Die Kombination aus korpulentem Mittsechziger und hübscher junger Dame ist im EU-Parlament nicht ungewöhnlich; viele junge Politikerinnen umgeben sich gern mit älteren Praktikanten und Büroleitern, Smiley.
Eine halbe Stunde später verfügen Büroleiter Hoffmann und ich über eine offizielle Einladung nach Eriwan, Armenien. Damit wird die EU unsere Flüge bezahlen, im Lande selbst sind wir Gäste des Armenischen Parlaments. Der zweite Teil der einwöchigen Reise wird uns nach Arzach führen, das wir in Europa unter seinem alten russischen Namen Nagorny Karabach kennen.
→ Sachdienlicher Hinweis von »Le Monde diplomatique« (2012)
Dreimal im 20. Jahrhundert führten das armenische Bergvolk und die aserbaidschanischen »Tataren« aus den Tälern Krieg gegen einander – 1905, 1918 und von 1991 bis 1994. Das Gebiet Berg-Karabach wurde gegen den Protest der armenischen Bevölkerung nach dem Willen der KPdSU 1921 der neu gegründeten Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeschlagen. Die Armenier aus Berg-Karabach, die früher für die Zugehörigkeit zur Sowjetrepublik Armenien gestimmt hatten, votierten nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 für die völlige Unabhängigkeit. So wurde aus einem Territorialstreit zwischen zwei Staaten ein nationaler Befreiungskampf. Die Republik Berg-Karabach mit ihren 140 000 Einwohnern hat eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament, eine eigene Fahne, eine eigene Armee, eigene Institutionen und eine eigene Regierung.
Auf meine Frage, ob die Reise von Armenien nach Bergkarabach gefährlich sei, winken die Armenier ab: Im April 2016 habe es die letzte Auseinandersetzung gegeben, derzeit werde die Straße nicht beschossen. Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer; ich bitte darum, zu meiner Sicherheit noch meine zwei Personenschützer Tom Hintner und Georg Behrend mitnehmen zu dürfen. Ich darf.
→ Sachdienlicher Hinweis des Auswärtigen Amts
Von Reisen in die Konfliktregion Bergkarabach wird dringend abgeraten. Anfang April 2016 kam es zu Kampfhandlungen in der Region Bergkarabach. Reisenden kann weder durch die Botschaft Eriwan noch durch die Botschaft Baku konsularische Hilfe gewährt werden. An der Waffenstillstandslinie kommt es immer wieder zu Schusswechseln, außerdem besteht Minengefahr.
Eriwan
Staatsbesuche sind uneingeschränkt zu empfehlen. Sobald man im heimgesuchten Staat ist, erfährt man eine exklusive Vorzugsbehandlung. Die umfassende Gewährung von Privilegien gilt leider noch nicht bei Zwischenlandungen. In Kiew stellt mir ein mürrischer Angestellter der Ukrainian Airlines nach einem kurzen Blick auf mein leicht übergewichtiges Handgepäck 66 Euro in Rechnung. Den EU-Beitritt können sich die Ukrainer abschminken.
Am Flughafen von Eriwan werden wir direkt nach der Landung korrekt vom Protokolldienst empfangen, an sämtlichen Kontrollen vorbeigeführt und mit schwarzen Limousinen zum Hotel gebracht. Im Wagen zeigt mir Büroleiter Hoffmann eine Mail aus Aserbaidschan. Sie warnt uns, dass Kaspar Karampetian ein dubioser armenischer Diamantenhändler sei, dessen Geschäft es sei, unbescholtene Abgeordnete mittels gestohlener Diamanten zu bestechen und nach Armenien zu locken. Für 2,5 Milliarden Euro hätte ich etwas mehr Phantasie erwartet. Trotzdem mache ich mir eine Notiz, Kaspar am Ende der Reise um die entsprechenden Steine zu bitten.
Während der Reise werden wir ausschließlich mit Toyotas unterwegs sein; der gesamte Fuhrpark der Regierung ist damit bestückt. Später erfahre ich, dass der Sohn des letzten Präsidenten die Generalvertretung für diese Marke innehatte. Während der kurzen Fahrt wirkt Eriwan auf uns wie eine quirlige, sehr gut geheizte Mischung aus Moskau und Beirut.
Das Opera Suite Hotel ist eines der besten in der Stadt, ein moderner, vollverglaster Turm.
Leider werden wir unsere Suiten kaum sehen, denn in Armenien ticken die Uhren anders, sie zeigen eine um zwei Stunden frühere Zeit an. Und da unsere dichtgetaktete Agenda die ersten Einträge morgens um 8 oder 9 Uhr kaukasischer Zeit zeigt, werden wir nur sehr wenig Schlaf finden. Staatsbesuche sind eigentlich nicht zu empfehlen.
Eriwan, Parlament
Zehn Minuten nach dem Einchecken wartet bereits wieder die Limousine auf uns. Im Parlament, das idyllisch in einer Grünanlage liegt, treffen wir Armen Ashotyan. Der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten empfängt uns in seinem Büro, in dem in sowjetischer Tradition ein Bild des Präsidenten hoch über seinem Schreibtisch hängt, allerdings eins des alten, korrupten.
Als Vertreter der alten Regierungspartei beherrscht er die Kunst, wortreich zu schwadronieren. Ohne zu pausieren hält er einen Vortrag, dem ich in Anbetracht der kurzen Nacht nur schwer folgen kann. Ich zucke hoch, als ich den Namen »Rheinmetall« höre, offenbar liefern deutsche Firmen Qualitätswaffen an Aserbaidschan. Keine Rüstungsexporte in Krisenregionen: ein eherner Grundsatz deutscher Politik, ZwinkerSmiley.
Nach fast 30 Minuten nutze ich eine Atempause, um dem Mann zum Ausgleich einen Aschenbecher mit Picassos Friedenstaube in die Hand zu drücken, dann verabschieden wir uns. Als nächstes steht ein Treffen mit dem neuen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan an. Nach kurzer Fahrt erreichen wir den Platz der Republik. Die große Lenin-Statue ist mittlerweile entsorgt, ebenso die Volkskommissare, die hier zu Sowjetzeiten über das Land wachten.
Im Regierungspalast warten wir in der White Hall, einem prächtig ausgestatteten Marmorsaal. Hoffmann, fürs Protokoll kurzerhand vom »Büroleiter« zum »Chief of Staff« befördert, brieft mich in aller Kürze: »Paschinjan ist Journalist gewesen, wie du, er war Herausgeber einer eigenen Zeitung, wie du, und er hat bei den Parlamentswahlen 1,3 Prozent geholt. Wir hatten nur 1,0. Danach politisch motivierte Haft, viel Spaß! 8 Prozent bei der Wahl 2017, dann 2018 Führer einer außerparlamentarischen Opposition, hat seinen korrupten Vorgänger Sarkissian mit friedlichen Großdemonstrationen aus dem Amt gedrängt und ist seit Mai Ministerpräsident. Vor drei Tagen hat er Merkel in diesem Raum die Hand geschüttelt.«
Nachdem wir einen angemessenen Moment gewartet haben, öffnet sich die verzierte Flügeltür, und der armenische Ministerpräsident betritt den Raum; ein kleiner, bärtiger, sympathischer Mann, der den Military-Look, mit dem er bekannt wurde, gegen einen Anzug getauscht hat. Vermutlich ist auch Paschinjan gebrieft, denn wir müssen beide spontan lachen, als wir uns gegenüberstehen und die Hände schütteln.
Die Protokollabteilung filmt die ersten Minuten mit, dann nehmen wir am Konferenztisch Platz und eröffnen das bilaterale Gespräch. »Herr Ministerpräsident, eine Frage aus persönlichem Interesse: Was macht denn mehr Spaß, die letzten Tage vor der Machtübernahme oder die ersten danach?« Paschinjan lächelt und sagt, er habe da keine so großen Unterschiede verspürt. Ich nehme mir vor, in meiner politischen Karriere den entscheidenden Zeitpunkt genau zu reflektieren, und frage, ob er mir einen Tip geben kann, wie ich Merkel möglichst schnell politisch stürzen kann. Paschinjan wird ernst. Etwas zurückhaltender antwortet er, dass er sich nicht in innerdeutsche Angelegenheiten einmischen wolle. Dann möchte ich von ihm wissen, was für eine Rolle das Internet bei seiner Machtübernahme gespielt hat. »Eine große«, bedeutet der Armenier. Seine Reden hätten bis zu 20 Millionen Klicks im Netz, obwohl es nur zehn Millionen Armenier gibt. Ich staune und entgegne, er solle das besser nicht erwähnen, wenn er seinen Antrittsbesuch in der EU macht: »Ich habe Kollegen, deren Reden werden bei Youtube 35mal angesehen – wenn es gut läuft. Und achtmal, wenn nicht. Mein Kollege Jo Leinen hält sogar Reden, die werden gar nicht gesehen, null Abrufe!« Wir lachen zusammen über Jo Leinen. Als Hoffmann fragt, ob geplant sei, Elemente direkter Demokratie einzuführen, sagt Paschinjan: »Wir haben schon direkte Demokratie. Ich sitze hier.« Dann berichtet er von seinem Kampf gegen Korruption und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Aber größere Sorgen macht ihm die Aufrüstung von Präsident Alijew: »Aserbaijan is preparing for war.« Nach etwa 40 Minuten leite ich langsam den Abschied ein, ich habe das Gefühl, Paschinjan brauchte Zeit und Kraft für Wichtigeres. Wir wünschen ihm alles Gute, dann drückt mir mein Chief of Staff einen Aschenbecher mit Picassos Friedenstaube in die Hand.
Taverne Yerewan
Wir haben die üblichen zehn Minuten, um uns im Hotel frisch zu machen, dann ist Abfahrt zum Abendessen. Das Parlament lädt uns in ein traditionelles Restaurant, zu Musik, Tanz, Abendessen.
Hoffmann und ich sind die ersten; als wir uns zur verabredeten Zeit vor dem Hotel einfinden, ist noch niemand da. Wir stehen sinnlos im warmen Wind herum, der abends durch die Stadt weht, heute womöglich etwas heftiger als sonst, dann beschließen wir, die Zeit mit einem schnellen Bier an der Hotelbar zu überbrücken. Kaum haben wir die Drehtür wieder passiert, gibt es hinter uns eine Explosion. Da, wo wir gerade noch gestanden haben, ist eine etwa zwei Quadratmeter große Fensterscheibe gelandet, die jetzt sichtbar im zwölften Stock fehlt, und hat sich in ihre Einzelteile zerlegt. Zum Glück wohnen wir nicht im zwölften Stock! Kurz überlege ich, ob die Aserbaidschaner uns bereits auf den Fersen sind, verwerfe den Gedanken aber schnell.
Im Yerevan werden uns zu lärmender Folklore herrliche Speisen aufgetischt. Das frische Gemüse kommt nicht aus Holland und hat Geschmack, ebenso Fisch und Fleisch. Zu zwei Hauptgängen werden unzählige Schüsseln mit kleinen Speisen und Salaten gereicht, dazu Lavash, das hauchdünne armenische Fladenbrot. Dem Rotwein merkt man die Sonne an. Obwohl ein Teil der Reisegruppe schon seit fast 20 Stunden auf den Beinen ist, genießen wir anschließend noch die warme Sommernacht in Eriwan. Während die armenischen Medien bereits ausführlich über unser Gespräch mit Ministerpräsident Paschinjan berichten, schlendern wir durch große Parkanlagen, durchsetzt mit moderner Kunst, umgeben von kleinen Lokalen und einer eindrucksvoll sowjetisch anmutenden Betonkaskade voller Wasserspiele und Pflanzen.
Das Bier ist gut, und da für den nächsten Tag ein Besuch des Genozid-Mahnmals auf dem Programm steht, müssen wir uns nicht zurückhalten – es wird vermutlich viel geschwiegen werden morgen. Auch dass der Sprecher des Aserbaidschanischen Außenministeriums uns bei Twitter begrüßt, tut der Stimmung keinen Abbruch: »@MartinSonneborn Armenian lobby organisation eafjd lavishly financing such illegal visits misleads European Community, spreads discrimination/racism and promotes aggressive separatism, undermines efforts for peaceful/lawfull resolution of Armenia Azerbaijan conflict«.
Vor unserem Hotel stoppt Dustin Hoffmann abrupt: »Seht Ihr das?« »Ein… äh Auto?« »Das ist nicht irgendein Auto, das ist ein Mercedes S 65 AMG.« »Was ist das Besondere?« »630 PS, V12, das ist der stärkste Motor in der S-Klasse, Basispreis ca. 236 000 Euro…«
Auf der Dachterrasse des Hotels tanzt der Mercedesfahrer mit anderen Kindern der vermögenden Oberschicht. Wir nehmen noch ein paar fiese Heineken und genießen den Blick über die Stadt. Bevor das Frühstücksbuffet eröffnet, verschwinden wir kurz im Bett.
Zizernakaberd Memorial Complex
Zwölf eindrucksvolle Steinblöcke wölben sich hoch über dem Museum und umgeben die ewige Flamme. Ein großer Obelix, pardon: Obelisk ragt mahnend daneben zum Himmel. Er ist der Länge nach gespalten und symbolisiert die Teilung des armenischen Volkes. Etwa drei Millionen Menschen leben hier im Lande, mehr als doppelt so viele verstreut in aller Welt, Nachkommen von Armeniern, die vor den Pogromen geflohen sind. In eine 100 Meter lange Mauer sind die Namen von Städten und Dörfern eingelassen, in denen 1915 Massaker stattgefunden haben. Flächendeckend klagt über dem Gelände Samuel Barbers »Adagio for Strings«.
Wir erhalten jeder zwei weiße Nelken, die wir vor der ewigen Flamme niederlegen. Der Rundgang durchs Museum, in dem Fotos und Dokumente den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern dokumentieren, dauert länger als geplant. Alles, was Menschen Menschen antun können, die einen falschen Glauben haben oder der falschen Ethnie angehören, ist hier zu sehen.
→ Sachdienlicher Hinweis der »Zeit«
Der türkische Präsident Erdogan hat den Völkermord des Osmanischen Reiches an bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren als »traurige Ereignisse« bezeichnet. Die Türkei lehnt es strikt ab, die tausendfachen Tötungen einen Genozid zu nennen. Die Türkei spricht dagegen von 300000 bis 500000 getöteten Armeniern und ebenso vielen Toten auf Seite der Türken bei bürgerkriegsartigen Kämpfen und Hungersnöten.
Zum Glück fällt das Interview, das ich eigentlich nach dem Besuch des Museums geben soll, wegen unserer Verspätung aus. Im Gegensatz zu Merkel hätte ich mich schwer getan.
→ Sachdienlicher Hinweis der Deutschen Welle
Nach dem Besuch der Gedenkstätte und einem Gespräch mit Ministerpräsident Paschinjan sagte Merkel, die Greueltaten an unzähligen Armeniern dürften nicht vergessen werden. Sie vermied es in ihren Ausführungen, den Begriff »Völkermord« zu verwenden.
Arzach
Bergkarabach ist »kleiner als das Saarland« (MDR), »ungefähr so groß wie das Saarland« (»Tagesspiegel«), »nur wenig größer als das Saarland« (DLF), »doppelt so groß wie das Saarland« (»Welt«) bzw. »vier Mal so groß wie das Saarland« (»Spiegel online«). Bis zur Hauptstadt Stepanakert sind es etwa 350 Kilometer. Das klingt nicht übermäßig weit. Aber mit Halt am Kloster Noravank, einer prächtigen armenischen Gebirgskirche, die unauffällig darauf hinweist, wer hier im 13. Jahrhundert lebte, und einem opulenten Mittagessen in einem idyllischen kleinen Tal sind wir rund acht Stunden unterwegs. Unterwegs durch eine wilde, unberührt wirkende Gebirgswelt, wie ich sie schöner noch nicht sah. Armenien und Arzach sind nur durch einen schmalen Korridor miteinander verbunden. Wir fahren in einem Kleinbus (Toyota) auf der Südroute. Die liegt teilweise im Schussfeld der aserbaidschanischen Artillerie. Uns fällt es schwer zu entscheiden: Was sollen wir mehr fürchten, Beschuss aus Aserbaidschan oder die Manöver unseres Fahrers? Die Zweifel an seinen Fähigkeiten zerstreut er in den nächsten Tagen immer wieder: Natürlich können sich auf einer zweispurigen Straße bequem drei Fahrzeuge auf gleicher Höhe bewegen, natürlich kann man jede Linkskurve ungeniert schneiden, weil man sich zum Ausgleich in jeder Rechtskurve so eng wie irgend möglich an den Felsen oder drohenden Abgrund schmiegt. Die Straße, wie so vieles hier durch Spenden von Exilarmeniern finanziert, steigt bis auf über 2000 Meter an, es gibt unendlich viele Serpentinen und Haarnadelkurven. Gelegentlich sieht man ganz weit unten ein Autowrack.
Stepanakert
Die Grenze zwischen Armenien und Arzach ist bewacht. Aber nicht sehr. Unser Fahrer hält am Grenzübergang zwar nicht extra an, aber er hupt während des Vorbeifahrens. Kaspar hatte zuvor angerufen und uns angekündigt. Mit zwei Stunden Verspätung erreichen wir abends Stepanakert. Die kleine Stadt liegt unten im Tal, ist auffällig sauber und ein bisschen mehr herausgeputzt als Eriwan. Am Straßenrand vor dem Park Hotel wartet der stellvertretende Präsident der Nationalversammlung, der Historiker Vahram Balayan, auf uns, begrüßt uns herzlich und freut sich sichtlich über den offiziellen Besuch aus Deutschland.
Auch die Vertreter von mehreren NGOs, die wir hier treffen sollen, haben zwei Stunden in der Lobby des einfachen Hotels gewartet. Eine NGO heißt »Harmonie«, die Themen sind Frauenrechte, Frieden, Kultur. Eine Frau sagt: »Europa ist eine Schule, in der man lernen kann, wie man Konflikte friedlich löst.« Wie gern würden auch wir das glauben.
Alle Anwesenden leiden darunter, dass es keine offiziellen Verbindungen zu anderen Staaten gibt, auch ausländische Stiftungen sind hier nicht aktiv.
Noch später, beim landestypisch überdimensionierten Abendessen, erläutert uns Balayan die komplizierte Situation Arzachs; vom 1. Jahrhundert (v.Chr.) über die mittelalterliche Besiedlung bis zu Stalin, der hier willkürlich neue Grenzen zog, und den Kämpfen um Selbständigkeit in der zerfallenen Sowjetunion. Der deutsche Rechtswissenschaftler Luchterhandt habe jedenfalls in einer juristischen Analyse zur Unabhängigkeit von Bergkarabach herausgearbeitet, dass die Situation in Karabach der im Kosovo vergleichbar sei: »Wenn die UN Kosovo anerkennen, muss Bergkarabach auch anerkannt werden.«
Lächelnd öffnet Balayan eine kleine Flasche mit honigfarbenem Inhalt, erklärt uns, dass Maulbeerschnaps eine Spezialität, der Maulbeerbaum eine der ältesten Kulturpflanzen der Menschheit sei und gießt rundherum großzügig ein. Der Maulbeerschnaps ist gut, die Nacht kurz.
Der nächste Morgen beginnt mit dem Besuch einer Gedenkstätte. Wieder bekommen wir weiße Nelken und legen sie an den Gräbern junger Männer nieder. 6500 starben im Krieg zwischen Aserbaidschan und Arzach Anfang der 90er Jahre.
Außenministerium
Der Außenminister von Arzach, Masis Mayilyan, begrüßt uns überraschend auf Deutsch, »Guten Tag, nehmen Sie Platz!« und erläutert uns zusammen mit der stellvertretenden Außenministerin die Situation noch einmal auf ostarmenisch. Ich verkneife mir die Frage, was der Außenminister eines Landes, das praktisch keine Beziehungen zu anderen Staaten hat, den ganzen Tag tut.
Mayilyan klagt, die Menschen in Arzach würden in Frieden leben, unabhängig sein, Beziehungen zu anderen Ländern aufnehmen wollen, aber Aserbaidschan arbeite seinerseits an ihrer kompletten Isolation: »Fast alle Türen sind uns verschlossen. Aserbaidschan weigert sich, an Verhandlungen teilzunehmen, wenn Arzach beteiligt ist. Aber wir wollen der Welt zeigen, dass hier Menschen leben. Sie helfen uns dabei. Danke dafür!«
Vom Außenminister erfahren wir auch, dass die aserbaidschanische Seite unseren Besuch bereits offiziell kritisiert habe. Vermutlich stünden wir bereits auf der schwarzen Liste, die Baku führe, und dürften nicht mehr nach Aserbaidschan einreisen. Ein Urlaubsland weniger.
Parlament
Der Präsident der Nationalversammlung, Ashot Ghulian, ist ein ruhiger grauhaariger Mann in meinem Alter, er hat im Krieg für seine Freiheit gekämpft. Mit am Tisch sitzen Vertreter aller Parteien, darunter mehrere Hochschullehrer. Als ich nachfrage, erfahre ich, dass acht Professoren in der 33köpfigen Nationalversammlung sitzen. Was für eine interessante Kultur, in der gebildete Köpfe, geeint durch ein außenpolitisches Ziel, sachlich zusammenarbeiten, ohne Fraktionsbildung und großes Geschrei.
»Hier haben die Menschen die Demokratie gewählt«, sagt Ghulian. »Sie machen das nicht des Geldes wegen oder anderer Vorteile, nicht, weil eine dritte Partei ihnen das gesagt hat. Sondern weil sie daran glauben. Und die Menschen, die hier leben, sind überrascht, wenn das EU-Parlament zu ihnen sagt, das war keine gültige demokratische Wahl, die kann man nicht anerkennen. Wir wollen eine Gesellschaft, die dem europäischen Wertesystem entspricht. Wir haben unseren Weg gewählt, den Weg der Freiheit und Demokratie, und wir sind fest in unseren Zielen. Wir hoffen, dass die EU auch ihren Werten treu bleibt.«
Ich bedanke mich für seine Worte. Dann entgegne ich, dass für uns, die wir in einer gefestigten Demokratie aufgewachsen sind, die Begeisterung der Arzacher sehr beeindruckend sei; zumal in einer Zeit, in der die Demokratie in einigen Ländern Europas eine fast kollektive Geringschätzung erfährt.
Beim Mittagessen sitze ich neben der stellvertretenden Außenministerin. Sie will mir unsere Pässe übergeben, die Visa sind nur eingelegt. »Wir würden das Visum gern korrekt eingeheftet haben«, protestiere ich. »Aber dann können Sie nie wieder nach Aserbaidschan reisen!« – »Es wird uns ein Vergnügen sein.«
Nach dem Essen treffen wir den Menschenrechtsbeauftragten der Regierung. Er lacht ungläubig, als er hört, dass in NRW/Deutschland mein alter Kumpel Herbert Reul gerade die Kennzeichnungspflicht für Polizisten abgeschafft hat. Dann besichtigen wir eine Cognac-Fabrik. Der Cognac ist lecker, obwohl er nicht Cognac heißen darf, deshalb sind wir angeschlagen, als wir Präsident Bako Sahakyan treffen. Die Gesprächsthemen wiederholen sich, und als Sahakyan zum Abschied fragt: »Was wollen Sie bei uns noch erleben?«, antworte ich nur noch: »Mehr Maulbeerschnaps!« (Lacher). Bei der herzlichen Verabschiedung überreicht uns der stellvertretende Präsident der Nationalversammlung eine Kiste mit sechs Flaschen Maulbeerschnaps. (Größerer Lacher.)
Haus der Nationalversammlung
Am späten Vormittag geben wir eine Pressekonferenz. Etwa ein Dutzend Journalisten ist gekommen, darunter Radioreporter und zwei Kamerateams. Kaspar stellt mich kurz vor, dann erteilt er mir das Wort. Ich begrüße die Anwesenden: »Herzlich willkommen zur bestbesuchten Pressekonferenz, die ich jemals im Kleinen Kaukasus gab. Als erstes möchte ich darauf hinweisen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein direktes Derivat der europäischen Aufklärung ist und als Grundaxiom des Völkerrechts zu deren universellen Prinzipien gehört. Die EU, die sich rhetorisch nur zu gern auf ihre Grundwerte bezieht, tut sich realpolitisch manchmal etwas schwer mit deren Umsetzung – wie wir in Katalonien gesehen haben.
Außerdem habe ich das Genozid-Museum in Eriwan besichtigt. Und ich möchte ein Wort nachreichen, das Bundeskanzlerin Merkel dort auszusprechen vergaß: Völkermord. Natürlich war es ein Völkermord, ich bin Deutscher und mit so etwas kennen wir uns aus.«
In guter stalinistischer Tradition schreiben die Printjournalisten unbeeindruckt alles mit, was ich sage. Die Bilder, die in den kommenden 50 Minuten gemacht werden, werden wir später in den Hauptnachrichten und in diversen Magazinen wiedersehen.
»Europa weiß wenig über Arzach«, fragt ein TV-Reporter, »was haben Sie gesehen?« – »Berge… von Herzlichkeit. Freundlichkeit. Ungebrochene Begeisterung für Demokratie. Und Maulbeerschnaps. Gestern abend. Zuviel…« Leises Kichern.
Eine Journalistin steht auf: »Man kann Beziehungen haben zu einem Staat, ohne dessen Unabhängigkeit anzuerkennen. In welchem Bereich können wir Beziehungen entwickeln, Zusammenarbeit im Bereich, Wirtschaft, Bildung?«
Ich stehe ebenfalls auf: »Das kann ich nur für unsere kleine Partei beantworten. Wir können keine Wirtschaftsverträge mit Ihnen abschließen. Aber wir können Öffentlichkeit herstellen, das muss der Anfang sein. Ich zum Beispiel wusste nicht mal, dass man sofort persona non grata in Aserbaidschan wird«, ich kann ein Lachen nicht unterdrücken, »sonst wäre ich natürlich nicht hierhergekommen…«
Dann ziehe ich meinen Diplomaten-Pass aus der Tasche, schlage ihn auf und halte ihn hoch. »Hier sehen Sie das Visum für Arzach. Normalerweise wird es nur eingelegt, wir haben es fest einkleben lassen. Wir stehen jetzt auf der Schwarzen Liste von Aserbaidschan, und ich habe versprochen, 2019 wiederzukommen mit einer größeren Reisegruppe. Wir werden versuchen, die Schwarze Liste um 100 Personen aufzustocken – und im Jahr 2020 die 1000 vollzumachen!«
Auf dem Rückweg besichtigen wir den Flughafen von Arzach, ungefähr zehn Kilometer außerhalb von Stepanakert gelegen. Wir toben durch die menschenleeren Hallen, die Abfertigungsräume des komplett intakten Gebäudes und über die Landebahn. Störender Flugbetrieb findet hier nicht statt, weil Aserbaidschan droht, Passagierflugzeuge vor der Landung abzuschießen.
Wenn Sie Zeit und Lust haben, sich das Ganze selbst anzusehen: Die PARTEI plant für Juni 2019 eine Bildungsreise nach Armenien und Arzach. Ohne Diamanten, aber mit Maulbeerschnaps. Aufnahme in die Schwarze Liste Aserbaidschans garantiert! Informationen folgen.
* Europarat: Gremium mit Vertretern von 47 Staaten, kämpft für die Wahrung demokratischer Prinzipien, Menschenrechte & gegen Korruption; nicht zu verwechseln mit dem Rat der EU
Behrend, Hintner, Sonneborn