Berlin. Großer Sitzungssaal im Roten Rathaus. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner, die Innensenatorin Iris Spranger und ein charismatisch dreinblickender junger Mann betreten ein offenbar eilig zusammengeschraubtes Podium und setzen sich. Vor ihnen Journalistinnen und Journalisten. Das Gemurmel erstirbt.
BÜRGERMEISTER WEGNER: Guten Morgen. Vielen Dank, dass Sie es zu dieser sehr kurzfristig einberufenen Pressekonferenz geschafft haben. Sie haben es ja sicher schon in der Zeitung gelesen – vielleicht sogar in der eigenen: Der rot-rot-grüne Senat hat uns nichts als Schulden hinterlassen. Berlin muss sparen. Schon jetzt ist absehbar, dass die geplanten tiefen Einschnitte bei ÖPNV, Bildung, Kita und Krankenhäusern nicht reichen werden. Daher hat das Land Berlin beschlossen, Aufgaben des Landes zu privatisieren. Frau Spranger und ich freuen uns, die erste Public-Private-Partnership mit einem Ur-Berliner Gewächs, dem Axel-Springer-Verlag, bekannt zu geben. Die Bild übernimmt die Berliner Polizei.
INNENSENATORIN SPRANGER (lachend): Die Leitung der Polizei geht sozusagen von Spranger zu Springer über.
Irritiertes Schweigen im Saal. Wegen der unglaublichen Nachricht oder des schlechten Witzes ist nicht klar.
EIN JUNGER JOURNALIST IN ROTEM T-SHIRT: Was genau bedeutet das?
WEGNER: Ganz einfach: Deutschlands auflagen- und meinungsstärkstes Printmedium übernimmt die Polizeiaufgaben. Aber genauer kann ihnen das sicher Herr Schneider erklären.
Wegner deutet auf den charismatisch dreinblickenden junge Mann neben sich – es ist der Bild-Chefredakteur Robert Schneider.
SCHNEIDER (räuspert sich): Einen schönen guten Morgen auch von mir. Wie Sie ja sicher wissen, hatte Bild vor ein paar Tagen einige aufsehenerregende Erfolge erzielt, als wir durch eine bundesweite Fahndung auf der Titelseite einige der gefährlichsten Klimaterroristen dingfest machen konnten.
WEGNER (nickt eifrig und lächelt)
EIN JOURNALIST DER SZ: Haben wir jetzt eine Bild-Polizei?
SCHNEIDER: Nein, niemand hat die Absicht, eine Bild-Polizei aufzustellen. Unter Leitung des neuen Polizeipräsidenten, unserem geschätzten Kolumnisten Franz Josef Wagner …
WEGNER (lachend): Von Wegner zu Wagner …
SCHNEIDER (leicht irritiert): … unter Herrn Wagners Leitung werden Arbeitsabläufe effektiver und die Ressourcen der Bild für die Polizeiarbeit genutzt. Der Bild-Leser-Reporter etwa wird zum Bild-Ermittler. Fällt einem Leser etwas Verdächtiges auf, kann er das sofort per Bild-App an die Polizei melden.
EINE JOURNALISTIN: War es nicht schon in der Vergangenheit so, dass die Bürger dies tun konnten – etwa auf einer Polizeiwache?
SCHNEIDER: Ja, aber Sie wissen ja selbst, wie dünn gestreut heutzutage Polizeiwachen sind. Und auf die Fahndungsfotos, die dort hängen, achtet doch keiner. Wenn wir aber jeden Tag auf der Titelseite ein paar Fotos veröffentlichen, steigt der Fahndungserfolg um ganz viel. Das sagen auch unsere Experten.
EINE STIMME VON HINTEN AUS DEM SAAL: Ist das keine Kapitulation der Demokratie?
WEGNER: Nein, im Gegenteil. Gerade jetzt, wo extremistische Kräfte von rechts …
SCHNEIDER: … aber auch von links …
WEGNER: … ja, aber auch von links, unsere Demokratie zu zerstören drohen, ist es ein genialer Schachzug der Berliner Landesregierung, also von uns, die Staatsgewalt abzugeben.
SCHNEIDER: Wir wollen ja keinen Polizeistaat. Stellen Sie sich nur vor, bei der nächsten Wahl würde die AfD zweitstärkste demokratische Partei.
WEGNER: Dann würde die CDU als stärkste demokratische Partei sich gezwungen sehen, mit ihr zu koalieren. Dann wäre der nächste Innenminister womöglich ein AfD-Mitglied. Das verhindern wir bereits jetzt, indem die Bild …
SCHNEIDER: Wir trennen sozusagen die staatliche Sicherheit vor dem Zugriff der Demokratie. Dafür werden wir die erfolgreichste Marke unseres Hauses wiederbeleben …
EIN ZWISCHENRUFER: Ein Herz für Kinder!
Vereinzeltes Gelächter.
SCHNEIDER: Hihi, lustig. Das war in den Achtzigern. Nein, ich meine …
WEGNER (begeistert): … die VOLKS-Zahnbürste, das VOLKS-Handy, den VOLKS-Computer …
SCHNEIDER: Richtig, Herr Bürgermeister! Aus der bisherigen, nun ja, Staats-Polizei wird nicht die Bild-Polizei, sondern die VOLKS-Polizei, eine Polizei für das Volk – vor allem das deutsche.
WEGNER: … das VOLKS-Fahrrad, die VOLKS-Waschmaschine …
EINE JOURNALISTIN: Werden denn die Gerichte die Arbeit dieser privatisierten Polizei anerkennen?
WEGNER: Selbstverständlich. Und wenn unsere Privat-Public-Zusammenarbeit erfolgreich ist, werden nach und nach weitere staatliche Aufgaben vom Springer-Konzern übernommen – auch bundesweit.
EINE JOURNALISTIN: Welche werden das genau sein?
SCHNEIDER: Na, die Arbeitsagentur. Dann die Finanzverwaltung, die Gesetzgebung … Da wird es einfache, klar verständliche Gesetze geben mit kurzen Sätzen und großen Überschriften. VOLKS-Gesetze sozusagen.
WEGNER: Und letztlich natürlich noch die Judikative.
SCHNEIDER: Dann haben wir alle staatlichen Service-Leistungen in einer Hand. Sie wollen ja auch nicht, dass irgendeine extremistische Partei aus dem rechten Spektrum …
WEGNER: … oder dem linken …
SCHNEIDER: … oder dem linken Spektrum Richter und Staatsanwälte einsetzen kann, wie es ihr gefällt. Mit unserem Modell werden die Gerichte ganz einfach aus der Bild-Leserschaft rekrutiert. Diese können dann den Willen, also den VOLKS-Willen, in unsere Justiz hinein, ich meine: auch hier werden wir unsere bewährte Marke …
WEGNER: … das VOLKS-Gericht …
SCHNEIDER: An dem Namen arbeiten wir noch. Damit die AfD …
WEGNER: … oder extremistische Kräfte aus dem linken Spektrum …
SCHNEIDER: … keinen Zugriff auf die Strafverfolgung haben.
EIN JOURNALIST: Ab wann übernimmt die Bild die Polizeiarbeit?
WEGNER: Diese Frage würde ich gern ich an die Frau Innensenatorin weitergeben.
SPRANGER (etwas überrascht, während sie den richtigen Zettel sucht): Das gilt, meines Wissens nach … ab sofort …
Unruhe bricht aus. Alle reden durcheinander.
EIN JOURNALIST: Kein Netz.
EIN ANDERER JOURNALIST: Ich komm nicht durch.
NOCH EIN ANDERER JOURNALIST: Whatsapp geht auch nicht.
Die Türen öffnen sich. Uniformierte betreten den Saal, auf Rücken und Brust der Uniformen prangt ein rotes Rechteck mit den weißen Buchstaben POLIZEI.
SCHNEIDER (laut, um die anderen zu übertönen): Es kann sein, dass gerade irgendwo ein Anschlag auf die Demokratie stattgefunden hat. Die Bild hat deshalb für Sie Arbeitsräume im Gebäude des LKA eingerichtet. Bitte folgen Sie unserem Sicherheitspersonal.
Die Polizisten begleiten die Journalisten hinaus.
Michael-André Werner