Jugendliche und Kunst
"In meinen aktuellen Arbeiten habe ich meine Beziehung zu dir verarbeitet"
Gideon ist 16 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 12 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Gideon sagte mir recht unbeteiligt, ich dürfe am Wochenende nicht zu seiner Ausstellung kommen. Er wird in seinem Jugendzimmer ausgewählte Zeichnungen präsentieren. Zuerst war ich enttäuscht. Gideon hat sogar Essen bei einem teuren Catering bestellt. Ich hätte gerne das Wachtelei-Canapé mit Kaviar probiert.
"In meinen aktuellen Arbeiten habe ich meine Beziehung zu dir verarbeitet", erklärte er. Das beunruhigte mich zutiefst. Geht es in der Ausstellung darum, mich als schlechte Mutter darzustellen? "Nein", sagte Gideon, er befürchtete nur, seine Gäste würden sich durch meine Anwesenheit befangen fühlen. "Du würdest meiner künstlerischen Arbeit erneut im Weg stehen." Den Vorwurf kannte ich schon. Dabei verstand er nicht, wie viele Sorgen mir seine Zeichnungen in der Vergangenheit bereitet haben.
Im Grundschulalter zeichnete Gideon ausschließlich Richard David Precht. Ich kenne meinen Sohn. Mir wurde schnell klar, dass er damit seine Überlegenheit signalisieren wollte. Ich hatte mich in seinem Alter nicht künstlerisch mit großen Philosophen auseinandergesetzt. Gideon wusste das. Zwei Jahre meiner Kindheit war ich damit beschäftigt, eine lebensgroße Müllskulptur von Rudolph Moshammer anzufertigen. Manchmal glaube ich, Gideons Selbstverständnis, jedem intellektuell überlegen zu sein, entspringt der Tatsache, dass er in der Philosophie-Bibliothek der Universität zu Köln gezeugt wurde. Gideons Zeichnungen zeigten damals Richard David Precht schreibend, denkend, als Kentaur, als hinduistischen Gott und in Badehose. Diese Entwicklung machte mir Angst. Mehrmals war ich kurz davor, ihn zum Kinderpsychologen zu schicken. Bis ich ihn zum Pastor brachte – danach zeichnete er keine Philosophen mehr.
Auch in den letzten Jahren besorgten mich Gideons Zeichnungen. Sie waren teilweise sehr obszön. Gideon zeichnete viele Akte. Ich verstehe nicht, warum er nicht stattdessen Pornos schaute. Einmal erkannte ich in einem Akt meine Schwester. Gideon hat ein gutes Verhältnis zu seiner Tante. Doch die Zeichnung befremdete mich. Warum hatte er sich für sie als Modell entschieden? Findet Gideon meine Schwester attraktiver als mich? Den Kontakt zu meiner Schwester habe ich abgebrochen. Einen großen Teil von Gideons Aktzeichnungen habe ich verbrannt.
Schon in ein paar Tagen findet Gideons Vernissage statt. Ich habe mich entschieden, zur gleichen Zeit eine Protestausstellung im Wohnzimmer zu organisieren. Es geht mir nicht darum, seiner künstlerischen Arbeit im Weg zu stehen. Ich weiß, dass ich eine gute Mutter bin. Ich glaube nur, dass es meine Siebdrucke von Rudolph Moshammer auch verdient haben, gesehen zu werden.