Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (84)
Kurtchen nahm wahr, wie Heiner, ebenso freundlich, die Augen verdrehte und "Internet" äffte, aber leise, wie um die Lächerlichkeit des Einwands, der einer Antwort eigentlich nicht würdig sei, zu bekräftigen.
"Was fährst du auch Auto", sagte Kurtchen, mehr, um auch mal was zu sagen, als daß er was gegens Autofahren gehabt hätte; vom Schriftsteller Bernhard war immerhin der Satz überliefert, er sei nur glücklich, wenn er im Auto sitze und weder in A noch in B, sondern auf dem Weg dazwischen sei. Das leuchtete auch Kurtchen ein, der ja selber Auto fuhr und sich den Schriftsteller Bernhard auch gar nicht in einem Bahnabteil, einem ganz und gar entsetzlichen, verkommenen, objektiv fürchterlichen Bahnabteil vorstellen konnte.
Kurtchen hatte aber keine Gelegenheit, sich für seinen planen, unterkomplexen Einwand zu schämen, da endlich, von Gernolfs Verrenkungen aufmerksam gemacht, eine Bedienung erschien. Es hatte Auftritt ein kleiner, mittelalter, tief schwarzhaariger Mann mit einem, wie Heiner wohl gesagt hätte, irgendwie mausartigen Gesicht und übermäßigen Koteletten, die im Verbund mit des Mannes Garderobe, die aus einer verblichenen schwarzen Stoffhose und einem zwar weißen, allerdings bereits ins ranzig Eierschalige verwitterten Hemd sich zusammenfügte, nicht den großstädtisch-modischen Eindruck erzeugten, den Inhaber hypertropher Koteletten in der Regel zu erwecken beabsichtigten, sondern, im Gegenteil, einen im Präteritum entschlossen steckengebliebenen; und Kurtchen ging es langsam auf die Nerven, daß schon wieder eine Erinnerung in ihm hochquoll, an die dörfliche Speisegaststätte nämlich, die er mit seinen Eltern in der Kindheit häufiger frequentiert hatte und die aus zweierlei Gründen einen festen Platz im Familiengedächtnis einnahm: wegen der Fliegen, die er und seine Schwester, die Wartezeit, bis die Hähnchen kämen, zu überbrücken, im Dutzend totschlugen, ohne daß es irgendwen interessiert oder wenigstens grenzwertig vorgekommen war (das Wort gab es damals halt noch nicht), und wegen des Kellners, eines kleinen, tief schwarzhaarigen, irgendwie nagetierhaft aussehenden Mannes mit schon damals nicht mehr zeittypischen Koteletten, verschossener Montur (wenn das, argwöhnte Kurtchen, nicht eine unzulässige Rückübertragung war) und, vor allem, streichholzkopfbreiten Trauerrändern unter den Fingernägeln, was dem Auge nicht verborgen blieb, weil der Daumen, einem ungeschrieben Gesetz damaliger Provinzgastronomie folgend, immer so vollständig wie möglich auf dem Teller lag.
"Warum", machte jetzt Fred, nachdem der Nager schweigend die Getränkewünsche zur Kenntnis genommen und den Rückweg angetreten hatte, "du fährst doch auch Auto. Nicht gut, aber du fährst!"
"Er kann ja die Kloschüsseln nicht zu Fuß durch die Stadt tragen", half Gernolf, und Kurtchen ärgerte sich trotzdem. (wird fortgesetzt)