Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (78)
Kurtchen nickte vorsorglich, er wollte jetzt nicht Stellung beziehen, er verstand auch viel zuwenig von Hegel; höchstens soviel, daß es, Hegel zufolge, an Vernunft nicht zu überbieten war, mit Gernolf in dieser U-Bahn zu hocken und sich von der grafischen Überlegenheit der Schweiz in Kenntnis setzen zu lassen. Andererseits hatte Hegel von den Werbemühen der regionalen Apfelsaftfirma Possmann noch nichts wissen können; aber trugen diese nicht auch, auf ihre Art, zur Weltvernunft bei?
Kurtchen verschränkte die Arme vor der Brust, dachte scherzhaft:
Beim Thema Weltgeist lassen Hegelianer nicht mit sich handeln, und seufzte. Es klang ein bißchen pathetisch; aber er war jetzt alt genug, er tat jetzt einfach, was er wollte.
Sie waren da, Endstation. Mit unvermindertem Bedauern stand Kurtchen auf, und für eine Sekunde fühlte er sich der Erkenntnis nahe, daß das sein Grundverhängnis sei: daß er so gut wie immer mit Bedauern aufstand: vom Kneipentisch, vom Frühstückstisch, und am Morgen sowieso. Wenn er saß, dann saß er; die wunderbare Welt der Trägheit. Er stand, dachte Kurtchen, eigentlich nur beim Zahnarzt ohne Bedauern auf, beim Friseur sowie nach vierstündigen Bahnfahrten, und schon häufiger war ihm die Frage erschienen, was er im Falle eines Lottogewinns täte bzw., genauer, wie er mit dem Umstand, daß ihn, außer den nötigsten körperlichen Verrichtungen, rein gar nichts mehr zum Aufstehen zwänge, zurechtkommen würde; und Kurtchen hatte allen Grund zu der Befürchtung, daß gar nicht. Er würde einfach nichts mehr tun: nachmittags aufstehen, ein bißchen lesen und fernsehen, abends durch die Kneipen segeln; aber das würde nicht reichen, da war er Protestant, ohne halbwegs zwingende Beschäftigung würde er seinem Hang, die Zügel fallen zu lassen, die Zügel schießen lassen und dabei früher oder später draufgehen; und er dachte an Herrn Primero, der, vor ein paar Jahren, nach einem durch allerlei glückliche Umstände erst ergatterten und dann gewonnenen Prozeß mit enormem Streitwert sein Büro für ein Jahr zugesperrt und einfach gar nichts getan hatte. "NICHTS", hatte Herr Primero am Abend seines Sieges durch den Leberkloß gebrüllt. "Ich mach keine Weltreise, ich schreib keinen Roman, ich laß die Hosen runter, und jeder kann mich am Arsch lecken! Glaubt mir das, ihr Ficktüten!" Und er hatte Wort gehalten, jedenfalls soweit Kurtchen das beurteilen konnte: mindestens war Herr Primero in der Folge praktisch jeden Abend (so wurde von kundiger Seite ausgesagt) blau gewesen und hatte sich sein Zustand nach nicht einmal drei Monaten derart verschlechtert, daß Andi, der Wirt vom Leberkloß, Henner von der Extra-Bar und die Vorstände weiterer Etablissements jeden Abend per Rund-SMS vom Aufenthaltsort des Anwalts, der ja meistens alle freihielt, Mitteilung machten, damit dessen Geldreserven schneller schrumpften als seine Leber. (wird fortgesetzt)
◀ | Die Rache des Staates | Fast richtige Schlagzeilen (11) | ▶ |
Newstickereintrag versenden…