Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (112. und vorläufig letzte Folge)
Kurtchen mußte aufstoßen und ließ die Bewegung in einem Kopfnicken auslaufen. Auch dieses fügte sich; es fügte sich schlicht alles.
"Ich habe neulich einen Film gesehen, in dem eine männliche Figur Standard hieß. Also, mit Vornamen. Mir hat das sofort eingeleuchtet. Standard, das Gegenprogramm zum allgemeinen Distinktions...", er warf die Hand in die Luft, weil er "Gewichse" nicht sagen wollte, ihm etwas anderes aber nicht einfiel. "Geschaufel“, sagte er schließlich. "Wo sie doch heute alle immer gleich nach Gymnasium heißen, die ganzen hochbegabten und in ihrer Kreativentwickung unbehelligten Bürgerkinder, die einem so auf den Senkel gehen. Standard! Damit ist man... damit sind wir auf der sicheren Seite. Nobelpreisträger wird er damit nicht, aber Bankrotteur auch nicht. Eben Standard. Schön Abitur mit zwofünf, irgendein normaler Beruf, Bauingenieur oder Sozialpädagoge oder Schreiner", bloß nicht Klempner, dachte Kurtchen, "Standard halt, mehr soll man nicht verlangen. Außerdem", Kurtchen merkte, daß Petra nicht wußte, wovon er überhaupt sprach, und eben deshalb konnte er nicht aufhören, "soll er fernsehen. Viel fernsehen. Diese ganzen Spitzenpädagogen, die täglich ihre halbe Stunde Kinderfernsehen abstoppen, damit man sie in der Bio-Kita nicht für Unterschicht hält. Ich hab; ich hab", abermals drang Luft nach außen, "als Kind immer ferngesehen, wie wir alle, und? Hat es mir geschadet?" Ein Blaulicht ohne Martinshorn zog draußen rasch vorbei, am Tresen lachte wer, und Carpendale hub an zu singen dunkelschön: Ti Amo; und Kurtchen kam es langsam spanisch vor. Vielleicht war er längst tot? Und diese Phantasmagorie hier sein Jenseits, sein Himmel? Wie hieß denn dieser Laden überhaupt?
"Unbedingt", sagte Petra wacklig, näherte sich und verschwand, jedenfalls optisch.
Kurtchen hatte sich, ohne es recht wahrzunehmen, mit dem Abend, wie er war, angefreundet, und es traf ihn so unvorbereitet, daß er erst nichts zu erwidern wußte; und während Petra sich in seinen Mund wühlte und die Arme um ihn schlang, als gelte es einen Abschied für immer und nicht vielleicht das Gegenteil, überraschte ihn der Gedanke, daß er, außer zivilisationskritisch daherzuschwätzen, tatsächlich nichts gemacht hatte; und daß sich das, gesetzt den Fall, das alles ginge gut, auf einmal auszahlte.
Wie seltsam alles war.
"Vielleicht doch lieber Rolf", sagte Petra und ließ die Arme, wo sie waren. Sie lächelte und roch nach Schnaps.
"Wenn's nicht eh ein Mädchen wird", sagte Kurtchen; und während er seinerseits, halbbewußt und vorsichtig, fortsetzte, freute er sich, daß die Produktionsverhältnisse mit den Produktionsmitteln ausnahmsweise Schritt hielten.
Dann dachte er für eine Weile gar nichts.