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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 13

Liebe “DIE WeLT”,

am Freitag vor 75 Jahren bist Du zum ersten Mal erschienen. 20 Pfennig hat die Zeitung gekostet, damals viel Geld, die Unterüberschrift lautete: “Überparteiliche Zeitung für die gesamte britische Zone”. Heute erreicht die gedruckte Zeitung immer noch 700 000 Leser:innen, über den hauseigenen Hitler-Doku-Fernsehsender mit kombinierten Börsenticker “Welt” noch einmal roundabout 1 Million Rentner:innen on top. It's been one hell of a ride.

Seither hast Du vielen Menschen ein publizistisches Zuhause gegeben, die anderen Redaktionen in Zeiten von Cancel Culture und vorauseilender Identitätspolitik zu unbequem, zu sperrig, manchmal auch schlicht zu doof geworden waren. Meine erste Berührung mit Dir war die extrem aufgeladene Debatte um Ronja von Rönnes Text “Warum mich euer Feminismus anekelt” (2015), ein wütender 20 000er gegen die insbesondere im PS-armen Linksgrün-Milieu beliebte Verschwörungstheorie, dass unsere Gesellschaft patriarchalisch strukturiert sei und man es als Frau ein wenig schwerer hätte als als Mann. Gestrigstes Gedankengut in übler 68er-Tradition, da gibt es ohnehin keine zwei Meinungen. Für mich jedoch ein nahezu epiphanisches Erlebnis in der Bahnhofsbuchhandlung: “Nanu”, dachte ich, “was ist das denn hier für eine obergeile Krawall-Zeitung mit so einem Globus oben im Titel? Die klaue ich direkt mal!” Damals ein Win-Win-Win-Geschäft für alle Seiten: Ich hatte endlich etwas Altpapier, um unseren WG-Boden fürs Streichen auszulegen, Ronja von Rönne durfte ihren komplexen Gedanken noch einmal in allen öffentlich-rechtlichen Kultursendungen aufsagen und “DIE WeLT” hatte ihr Scouting-Modell für die kommenden Jahre gefunden: verhaltensauffällige Autor:innen aus dem Internet überreden, ihre exklusiven Diagnosen noch einmal für die “DIE WeLT” aufzuschreiben.

Und dann wieder zurück ins Internet spielen. Rekursives Debatten-Management nennen wir das in der Publizistik. Mit Ulf Poschardt wurde diese Methode bis zur Perfektion getrieben. Dem bis dahin irrelevanten Fahrradblogger Rainer M. verschaffte er einen Kolumnenplatz, mit welchem dieser eine ganze Armada extrem unausgeglichener Internet-Männer, die zufälligerweise (das ergab eine Studie der Uni Leipzig) alle auf den Namen Jörg, Andreas oder Wolfgang hören, dirigiert, nein: befehligt und anderen Journalist:innen das freie Arbeiten quasi verunmöglicht. Was für die einen ein mit der Zeit immer erratischeres Festhalten an der publizistischen Power eines Kuchenfotos postenden Erben vom Tegernsee ist, steht für Poschardt im Einklang mit den drei großen Werten der “WeLT”: Freiheit, Europa, Helmut Kohl! Und die Zahlen geben ihm Recht: Die Dinger klicken wie bekloppt!

Mit solchen Schwergewichten ausgestattet, kann man sich auch journalistische Feingeister leisten. Mit Querfinanzierungsmodellen kennt man sich ja bei Springer ohnehin aus, und so war das Blatt auch für andere Großdenker wie den rheinland-pfälzischen Nischentheoretiker Nils Heisterhagen oder den Krawallo-Liberalen Bert Brechtgens Sprungbrett in die umkämpfte Meinungsbranche.

So unterschiedlich doof die einzelnen Autor:innen auch sein mögen, eine Sache verbindet sie alle: die Liebe zur Freiheit. Denn das war heute wie vor 75 Jahren schon immer die zentrale Frage aller Paywall-Thinkpieces: Freiheit, was ist das überhaupt für ein Wort? Wie schmeckt sie? Auf welches Gebäude in Berlin-Mitte könnte man es noch einmal bei Nacht projizieren? Apropos Paywall: Hinter den allermeisten “DIE WeLT”-Paywall-Artikeln befindet sich selbst im Abo-Modus kein Fließtext mehr. US-Investor KKR, der inzwischen knapp die Hälfte des Konzerns hält, sieht betriebswirtschaftlich keinen Sinn mehr darin, ganze Artikel zu produzieren. “Eine geile Überschrift reicht doch für ‘nen Twitter-Aufreger”, heißt es dazu aus den USA.

Freiheit ist manchmal eben auch die Freiheit zum Verzicht.

Alles Gute zum Geburtstag: Dein Dax Werner

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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 12

Liebe Leser:innen,

Endlich! Bei Kilometerstein 38 des Pandemie-Marathons kämpft sich die FDP zurück auf die politische Bühne. Plötzlich scheint Jamaika im Herbst möglich, und vielleicht ja sogar schon früher mit dem Flieger. Erst ging es für die Liberalen in der Sonntagsfrage satte drei Prozentpunkte hoch, dann konnte man auch noch einen prominenten Parteineuzugang verkünden: den Eisenhüttenstädter Diskjockey Paul van Dyk! Das Signal, das hiervon ausgehen soll, ist klar: Wenn uns das Merkelregime die Mallorca-Auszeit madig macht, holen wir uns Mallorca eben nach Hause – und drücken ihm bei der Gelegenheit ein Parteibuch in die Hand.

So einen Sensationstransfer musst du natürlich medial entsprechend kommunizieren – oder, wie der Saarländer MP Tobias Hans im Tagesthemen-Interview am Donnerstag sagte (und dabei offenbar sein eigenes Medien-Briefing vorlas): "Die Menschen brauchen ein Signal, eine Erzählung, die sie glauben können." Eigentlich hatte ich es nicht mehr für möglich gehalten, dass mir metafiktionales Erzählen nach dem Grundkurs Literaturwissenschaft noch einmal irgendwo begegnen würde. Und noch weniger, dass es ausgerechnet im Saarland wieder auftaucht! Diese Pandemie ist wirklich für einige Überraschungen gut.

Zurück zu Dyk. Keinem geringeren als FDP-Parteichef Christian Lindner kam es natürlich zu, den Personal-Scoop zu vermelden: "Der große Kulturschaffende @PAULVANDYK ergreift Partei für die #Freiheit. Macht nicht nur gute Musik, sondern sagt auch kluge Dinge. Welcome! CL". Lindner verquickt das tendenziell etwas abgenutzte Attribut "groß" mit ausgerechnet der Bezeichnung, welche den DJ kulturpolitisch als Pandemie-Problemfall klassifiziert. Um es mit der Zeit zu sagen: "Foucault hätte gejuchzt." Um ordentlich Druck auf das Thema zu bekommen, flankierte man die Personalie zusätzlich mit einem großen Interview in der Tageszeitung Welt. Darin geht van Dyk mit seiner alten Liebe SPD hart ins Gericht: "Die SPD war für mich eine Partei ohne den moralisch arroganten ideologischen Vorbau, den sie jetzt vor sich herträgt." Interessant, dachte ich, habe ich so in den letzten 12 Monate gar nicht täglich auf Twitter gelesen. Fast möchte man ihm zurufen: Obacht, DJ Paul, wenn du weiter so klug und gefährlich vor dich her denkst, landest du noch mit Ralf Stegner auf der Pro-&-Contra-Seite in der Zeit! Doch der DJ hat noch lange nicht genug und dreht die Debattenregler ein paar Sätze weiter richtig auf: "Unter Schröder wurde gefordert und gefördert." Ich gebe es unumwunden zu: Sehnsuchtsvolle Erinnerungen an den Altkanzler sind natürlich Trance in meinen Ohren.

So wie Paul van Dyks Musik. Sie ist nicht einfach nur Sangria-Techno, zu dem man im Deutschland-Trikot auf dem Parookaville-Festival in Weeze mit der Polizei abkumpeln kann. Vielmehr handelt es sich hier um musikgewordene Polittheorie, sie erinnert an Aufsätze von Nils Heisterhagen, die in Songs wie "Duality" behandelten Themen und Gedanken scheinen ähnlich komplex und wegweisend wie die des letzten Intellektuellen in der SPD. Es ist der Sound, den du auf der A8 zwischen Leonberg und Sindelfingen im geleasten Audi A8 hörst und, nur Augenblicke nachdem du gerade einen Mittelständler um 150 Arbeitsplätze verschlankt hast, bei 240 Kilometern pro Stunde auf die geniale Idee kommst, in die Partei des sechsten Ministerpräsidenten von Thüringen, Thomas Kemmerich, einzutreten, weil du dir denkst: "[Die FDP] hat sich maßgeblich in den letzten sieben Jahren verändert. Sie ist bei der Freiheit geblieben, hat aber verstanden, dass eine freiheitliche, weltoffene Gesellschaft mit einer sozialen Fairness im Land verbunden werden muss. Aber selbst wenn, ich wähle doch lieber die Partei der Apotheker als eine, die sich nicht klar von Rassismus abgrenzt."

Begeistert zeigte sich auch der reichweitenstärkste Jungliberale im Internet und zwitscherte unter das Lindner-Statement "@totalreporter Lindner-Retweet, alles erreicht" (1 Retweet, 8 Favs). Viraler ging da schon seine ausgewogene Analyse zur jüngsten Bund-Länder-Konferenz Anfang der Woche: "Kein Politiker der BRD-Geschichte hat mehr Schaden angerichtet als Angela Merkel. Kein einziger. Die Alte soll sich endlich verpissen." Offenlegung: Bei so viel intellektueller Energie und politischem Stil bekomme ich auch gleich Lust, mich bei der FDP anzumelden.

Trotz aller Euphorie: Ein Wort der Mahnung sei gestattet. Denn nicht immer geht es so sachlich und faktenbasiert wie bei den Jungliberalen zu, wenn FDP und Welt gemeinsame Sache machen. Das ZDF berichtete diese Woche, dass es die angebliche Lockdown-Müdigkeit "bei den Menschen da draußen", mit der ja die Lockerungen Anfang März begründet worden waren, genau betrachtet gar nicht gab: "Im Februar konnte man den Eindruck gewinnen, eine Mehrheit in Deutschland wolle Öffnungen. 'Lockerungen jetzt', titelte 'Die Welt' am 10. Februar. Die 'Bild'-Zeitung kritisierte Panikmache, die durch die Mutation geschürt werde. Und FDP-Chef Christian Lindner fand: 'Erste Lockerungsschritte wären möglich.' Dieser Versuch, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, sei auf Lobbyarbeit der Wirtschaft zurückzuführen, sagt Matthias Jung."

Der Rotfunk mal wieder, sagen jetzt vielleicht manche. Ich würde sagen: Der Ball liegt hier ziemlich deutlich bei Angela Merkel. Auch wenn es aktuell so aussieht, dass wir Menschen wie Lindner, Laschet und Hildmann nicht mehr erreichen: Die Kanzlerin muss den Liberalen und Wirtschaftsvertretern jetzt in einfachen Worten erklären, dass uns weder Schnelltests noch Tübinger Modelle, sondern nur noch ein gescheiter Lockdown aus der Scheiße retten kann. Kommunikation auf Augenhöhe ist gefragt. 

Dabei brauchen sie so sehr ein Signal, eine Erzählung, die sie glauben können.

Alles Gute: Euer Dax Werner

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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 11

Liebe Leser:innen,

wieder einmal liegt eine Woche hinter uns, in der ein kleiner Mann aus Aachen unverhofft ins Rampenlicht der bundespolitischen Öffentlichkeit stolperte: Armin Laschet, Noch-NRW-Ministerpräsident, seit dem 22. Januar Bundesvorsitzender der CDU und mit etwas Glück der nächste Bundeskanzler. Dabei sah es zunächst nach sieben Tagen mediale Verschnaufpause für das Öcher Original aus. Nach dem für die CDU ziemlich verkorksten Wahlwochenenden in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen bunkerte sich Laschet am Sonntagabend in seinem Berliner Büro ein und riss als allererstes einmal das Telefonkabel aus der Wand und stellte sein Telefon stumm, um das Wahldebakel nach der Maskenraffke-Affäre in der gebotenen Ruhe analysieren zu können. Was ihm viele bösartig als Feigheit und Führungsschwäche auslegen wollten, war in Wahrheit nur ein Beispiel von vielen für die Leadership-Qualitäten Laschets. Genauso konsequent entsandte er noch am Wahlabend Alt-Bundesinnenminister Thomas de Maizière als Unions-Vertreter zu Anne Will: Näher dran am Machtzentrum der CDU und CSU ist aktuell wohl keiner. Beide Beispiele verweisen auf Grundprinzipien des Machtpolitikers Laschet: Langsames Denken und Kommunikation auf Ballhöhe. Doch wer darin schon sein ganzes Programm erkennen will, unterschätzt ihn sträflicher als Friedrich Merz beim CDU-Parteitag. Denn wenn man genauer hinschaut, entdeckt man noch viele weitere magische Fähigkeiten und Assets, die sich der Aachener bei niemand anderem als dem letzten US-Präsidenten vor Joe Biden abgeguckt hat: beim amerikanischen Unternehmer Donald John Trump.

Ein tollkühner Vergleich, zugegeben. Doch betrachten wir die Sache einmal genauer. Da wäre bei beiden zunächst die oft fälschlicherweise als "bedenklich" ausgelegte Nähe zu christlichen Fundamentalisten. Der aus einem Opus-Dei-nahen Haushalt stammende Nathanael Liminski hat in jungen Jahren eine eigene hyperkatholische Lobbygruppe gegründet, die er inzwischen von "Generation Benedikt" in "Initiative Pontifex" umbenannt hat. Und gilt seit sechs Jahren als "Mastermind" und "Schattenmann" hinter dem überraschenden Aufstieg Laschets zum Spitzenpolitiker. Wenn, so Gott will, Laschet im September ins Kanzleramt einzieht, zieht sein engster Berater Liminski wohl mit ein. Und dann hätten beispielsweise auch die "Lebensschützer", also fundamentalistische Gegner:innen körperlicher Selbstbestimmung, die man beispielsweise auch auf der gestrigen Querdenken-Demo in München bestaunen konnte, über Liminski endlich einen direkten Draht zum künftigen Kanzler. Halleluja!

Doch damit nicht genug. Trump wie Laschet haben sich beide, bevor sie die Gipfel der politischen Macht erkraxelten, im Hochschulbereich für alternative und zukunftsgewandte Konzepte stark gemacht. Der Amerikaner mit seiner "Trump University" von 2005 bis 2010, an der er Geheimwissen aus der Immobilien-Wirtschaft unterrichten ließ, Laschet, indem er 16 Jahre als Dozent an der RWTH Aachen wirkte und sich bei der Benotung einiger Klausuren auf sein fantastisches Erinnerungsvermögen verließ: Als ihm ein Stapel Klausuren zur Benotung abhanden gekommen war, erfand er einfach Noten nach Bauchgefühl. Das forward thinking der beiden wurde summa summarum nicht so gut angenommen wie erhofft: Da an der "Trump University" weder die Dozenten einen Abschluss hatten noch die Studenten die Möglichkeit, einen anerkannten Abschluss zu erlangen, musste Trump letztendlich 25 Millionen Dollar Schadenersatz zahlen. Laschet musste zwar nichts zahlen, wurde von der RTWH jedoch öffentlich mit dem Ende seines Lehrauftrags gedemütigt. Und vielleicht war es gerade diese Demütigung – parallel zu Barack Obamas Stand-up beim "White House Correspondents' Dinner" 2011, als er Donald Trump zum Gespött machte –, die Laschet nach dem abrupten Ende seiner akademischen Laufbahn 2015 mit der notwendigen Jetzt-erst-recht-Power ausstattete, um 2017 in die Düsseldorfer Staatskanzlei einzuziehen. Weiß man’s denn?

Ein weiteres Beispiel für die schier unzähligen Parallelen ereignete sich dann diese Woche. Nachdem Trumps kreativer Umgang mit Wahrheit und Wissenschaft in seiner vierjährigen Amtszeit zur Etablierung des "March for science" führte, trampelt Laschet inzwischen auf denselben Pfaden. Wird ihn zumindest vom politischen Gegner vorgeworfen. Dabei hat der Familienminister seines NRW-Kabinetts, der FDP-Mann Joachim Stamp, lediglich in einem Fernsehinterview auf die Frage, ab welcher Inzidenz NRW denn die Notbremse ziehe, mit seiner Hand eine Kurve in die Luft gemalt: "Ab hier ungefähr!" Flexibles Pandemie-Management folgt eben keinen starren Verordnungen! Als sich dann trotzdem einige NRW-Städte entgegen Laschets Expertise erdreisten wollten, ihre Schulen aufgrund der explodierenden Infektionszahlen zu schließen, schob der Aachener diesen demokratie-zersetzenden Bestrebungen aus Dortmund und Duisburg den staatsverantwortlichen Riegel vor: "So geht’s nicht, liebe Leute: Wie gefährlich die Chinaseuche ist, entscheide immer noch ich!" Demokratie heißt auch Verantwortung. Auch Stamp meldete sich wieder zu Wort: "Bei dieser Pandemie haben schon so einige falsch gelegen, auch das Robert-Koch-Institut." Das RKI ging nämlich parallel dazu der NRW-Landesregierung auf die Nerven mit der Feststellung, dass die seit einigen Tagen erhöhte Zahl an Schnelltests keinen entscheidenden Einfluss auf die Inzidenz nähme. Kann ja alles sein, aber pressemeldet sich auch leichter von der Hand, wenn man keine Bundestagswahl im September vor der Haustür hat! Manchmal muss man in der Politik ein bisschen auf Zeit spielen, bis man eine wissenschaftliche Einschätzung auch öffentlich akzeptiert. Oder anders gesagt: Wissenschaft ist bestimmt nützlich, aber man kann es auch übertreiben.

Wer sich noch länger mit den Parallelen dieser beiden Ausnahmepolitiker beschäftigten würde, brächte sicher noch Erstaunlicheres zu Tage. Ich für meinen Teil habe jedenfalls jetzt schon keine Lust mehr und konstatiere: Vielleicht ist dieser einfache kleine Mann aus Aachen so etwas wie die gute Version von Donald Trump, vielleicht vereint er das Beste beider Welten: des rust belts und des Kohlenpotts. Laschet als Mario und Trump als Wario. Ein vergnügliches Bild. 

Heitere Grüße: Dax Werner

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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 10

Hey fellow Millennials,

wer erinnert sich noch? 2009 tauchte ein Live-Mitschnitt von Gunter Gabriel aus dem Knust in Hamburg auf, in dem er die Nerv-Hymne überhaupt, nämlich "Creep" von Radiohead – mit über 600 Millionen der most-streamed Song der Band – coverte und mit einem ganz persönlichen Text auf Deutsch ausstattete. Darin verquickt Gabriel die persönliche politische Standortbestimmung im wiedervereinten Deutschland mit Überlegungen zur eigenen Endlichkeit: "Wo war ich '68? Wo beim Mauerfall? Was ist mein Vermächtnis? Eine in Stein gehauene Zahl." Johnny Haeusler schrieb dazu damals auf Spreeblick: "Herausragend. In seiner OMFGigkeit."

Inzwischen hat sich einiges getan. Radiohead gelten inzwischen – TikTok sei Dank! – als red-flag-Band par excellence, als der Inbegriff von male manipulator music. Und Gunter Gabriel ist seit 2017 tot. Aber nicht vergessen. Denn um sein Vermächtnis kümmern sich nun zwei andere ehrliche norddeutsche Männer in der Netflix-Doku "Das Hausboot", nämlich Fynn Kliemann und Olli Schulz. Bei dieser Gelegenheit Dank an Giulia Becker, der es mithilfe eines einzigen Twitter-Threads gelang, den "norddeutschen Mann" als feststehenden Ausdruck zu etablieren. Die beiden holen mich jedenfalls erst mal koordinatengenau da ab, wo ich stehe: Bereit für eine Bromance-Comedy rund um zwei Kulttypen und ein mehr als schrottreifes Hausboot aus dem Nachlass von Gabriel, über alledem das mindestens diffuse Air des selbsternannten deutschen Johnny Cash. Locker-flockig runtergeschnitten auf vier snackable Folgen sind sie die perfekte Beschäftigung für einen Lockdown-Abend 2021. Geil, geiler, obergeil!

Noch in der Nacht überlegte ich mir ein paar extrem heiße Takes zur Dokumentation, die ich am nächsten Tag jedoch leider erfolglos einem anderen heruntergekommen Hausboot in Berlin angeboten habe. Wer will, kann sie sich ja copypasten und selber veröffentlichen!

1. Die beiden Nordlichter silencen mit ihrer Hochglanz-Doku das working class heritage von Gunter Gabriel ("Hey Boss, ich brauch mehr Geld").

2. "Das Hausboot" als ultimative Metapher für den sozialen Umbau der Agenda 2010, die geistig-moralische Wende der Schröderjahre. Der Arbeiter wird sprichwörtlich aussortiert und entsorgt, muss Platz machen für hypergenerische, seelenlose Architektur und einen Streetfood-Camper mit Tim Mälzer am Steuer.

3. Kein Wunder, dass Wolfgang Thierse im Kielwasser dieser Doku plötzlich aufgetaut wird: Er wird zum Symbol für die Aussortierten, die Abgehängten, kurz: Die Normalen. Ehrliche Typen mit dem Herz am rechten Fleck, denen einfach ab und zu mal die Hand ausrutscht, die es aber nie "so" meinen.

Wenn es gilt, eine Haltung zum Phänomen Fynn Kliemann zu finden, geht es mir im Grunde ein bisschen so, wie wenn ich mit Plusterhose tragenden Menschen konfrontiert werde, die gerade ihre Bachelor-Thesis in Sozialer Arbeit geschrieben haben und die Semesterferien dazu nutzen, mit Querdenken-Chef Michael Ballauf in Stuttgart gegen 5G-Masten anzuflöten, denn auch dort frage mich ständig: Was ist, wenn sie doch recht haben? Und es stimmt ja: In der Zeit, in der ich über neue Memes und Gags zum männlichen Teil der Familie Laschet brüte, gründet Fynn Kliemann 2 Start-ups, baut einen Freizeitpark und macht 40 000 Euro Profit durch Hochfrequenztrading mit Kryptowährungen. Nervt einen natürlich, wenn man darüber nachdenkt. Aber ist es nicht irgendwie auch geil, dass die beiden dieses beschissene Boot für ziemlich optimistische 20 000 Euro kaufen und dann noch mal fast eine halbe Million in die Reparatur stecken?

Hier würde ich gerne ein "Na ja" setzen, aber in dieser langgezogenen Harald-Welzer-Tonlage. Nichts gegen gute Vorher-Nachher-Unterhaltung à la VOX, aber schwierig wird die Doku dort, wo sie das Boot als eine Art Gunter-Gabriel-Gedächtnisprojekt etikettiert. Kliemann: "Ich hab' mich ja mit Gunter nie so richtig befasst, ich weiß nur, dass er irgendwie coole Sachen gemacht hat. So in Form von 'Leute motiviert' und irgendwie ein kreatives Zentrum versucht zu erschaffen. Ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich so etwas ist wie sein letzter Wunsch, ist mir eigentlich auch scheißegal, ich fand halt den Kahn cool und er stand halt mitunter für coole Sachen." Gabriel hat bestimmt richtig coole Sachen in seinem Leben gemacht, wurde aber auch immer wieder durch Gewalt gegen Frauen und Gewaltandrohungen (übrigens gut dokumentiert) auffällig. Das lief vielleicht noch bis vor ein paar Jahren unter "So sind sie halt, die Genies!". Wenn man 2021 eine Doku über sein Hausboot macht, kann man das aber mal problematisieren. Auch wenn "abkultförmig" immer noch der natürliche Aggregatzustand zwischen norddeutschen Männern zu sein scheint.

Anyway, habe jetzt auf jeden Fall extrem Bock auf ein eigenes Hausboot bekommen!

Liebe Grüße,
euer Dax Werner

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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 9

Liebe Leser:innen,

man kommt an diesem Wochenende kaum daran vorbei: Die sogenannte "Maskenaffäre" in der Union weitet sich aus. Weil ihr, liebe Leser:innen, in der Regel gut informiert in den Sonntag startet, verzichte ich an dieser Stelle auf eine langatmige Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse und starte direkt auf Ballhöhe. Der Essener Christdemokrat Matthias Hauer zwitscherte am Freitag: "Ich kenne unzählige Parlamentarier der #CDU/#CSU (und natürlich auch aus anderen Parteien), die sich 24/7 für das Wohl der Menschen in Deutschland richtig reinknien. Es macht mich wütend, wenn durch die Gier Einzelner viel erarbeitetes Vertrauen zunichte gemacht wird." Für mich ist das das falsche Mindset: Vertrauen wird doch wohl eher dort zunichte gemacht, wo vielversprechende young professionals wie etwa Dr. Georg Nüßlein (51) und Nikolas Löbel (34) vorschnell das Handtuch werfen, weil der Spiegel ein paar haltlose Gerüchte in die Welt setzt. 

Liebe CDU, ich habe Fragen: Wo ist der fighter spirit, wo das ninja mindset, wo ist das christdemokratische Durchhaltevermögen eines Helmut Kohl, bei dem ein Ehrenwort in Richtung Privatwirtschaft noch etwas galt und der die Namen der Spender mit ins Grab nach Speyer nahm? Hätte eine faire Untersuchung der Causa nicht sogar zum Ergebnis führen können – nein: müssen, dass es sich lediglich um unglückliche Missverständnisse beim Maskenkauf gehandelt hat, die ohne weiteres aufzuklären gewesen wären? Kann es sich die CDU im Jahr 2021 überhaupt leisten, ein wirtschaftspolitisches Talent wie Nüßlein, der laut eigener Homepage mit seiner Dissertation "ein Grundlagenwerk zum Konzernrecht" vorgelegt hat, einfach so fallen zu lassen? Auch wenn die Selbsteinschätzung "Grundlagenwerk" schon im Februar mit dem typisch deutschen Hinweis, dass es "praktisch nie zitiert [wurde], also wohl auch kaum als Grundlagenwerk zu bezeichnen [sei], siehe Google Scolar", von seiner Wikipedia-Seite gelöscht wurde? Oder geht es am Ende gar nicht um die Maskenkäufe, sondern darum, dass mal wieder zwei hoffnungsvolle Politiker mit Draht zum Volk zu gefährlich wurden für Merkel? Das berichten mir zumindest meine Quellen von einem Berliner Podcast-Schiff.

Viele Fragen, wenig Antworten. Stattdessen Duckmäusertum und Einknicken vor dem neuen Zeitgeist. Obwohl alle zwei Monate irgendwo ein nachdenkliches opinion piece erscheint, demzufolge die Bezahlung unserer Bundestagsabgeordneten – vor allem im Verhältnis zu ihrem workload am Volk! – viel zu gering sei, wird von Medien und Parteifreunden unbarmherzig draufgeschlagen, wenn sich dann doch mal ein Parlamentarier sein rechtmäßiges Stück vom Kuchen abschneidet. Ganz ehrlich? Mir ist das zu einfach.

Je näher wir den strategisch wichtigen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg kommen, desto mehr häufen sich obskure Korruptionsvorwürfe gegen die Union: Erst Philipp Amthor, dann die erwähnten Nüßlein und Löbel, dann Axel Fischer (irgendwas mit Aserbaidschan) und zuletzt auch noch Gesundheitsminister Jens Spahn. Rotfunk bizarr: Spahn geriet allen Ernstes dafür in die Kritik, dass er mit einigen Freunden zu Abend gegessen hat und diese ihm später einen symbolischen Betrag über Paypal Friends & Family geschickt haben. Zeit, eine altes lateinisches Zitat auszubuddeln: Cui bono?

Fragt sich sicher auch der Unions-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus, dennoch bringt er seine Perspektive sachlich und in einfachen Worten auf den Punkt: "Wir sagen daher sehr deutlich, das Beziehen von Geldleistungen für die Vermittlung von medizinischer Schutzausrüstung im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung von Abgeordneten stößt auf unser vollkommenes Unverständnis und wird von uns entschieden verurteilt." Mit nur sieben Substantiven (Beziehen, Geldleistungen, Vermittlung, Schutzausrüstung, Rahmen, Pandemie-Bekämpfung, Abgeordneten) sendet Brinkhaus seine deutliche Botschaft an die geschassten Parteifreunde Nüßlein und Löbel: Hier ist die die Tür raus für euch, ich kann euch sie nur öffnen, durchgehen müsst ihr selbst.

Doch wenn ich ehrlich sein soll: Ich sehe die Exit-Strategie noch nicht. Eher riecht es für mich nämlich nach einer zweiten Causa Wulff, einem weiteren politmedialen Desaster also, bei dem es am Ende bekanntlich um Sachleistungen im Gegenwert eines Bobbycars ging. Und die den ehemaligen Bundespräsidenten zurückließ als Präsidenten des Deutschen Chorverbandes. Bei den Maskendeals von Nüßlein und Löbel geht es zusammengerechnet um einen ähnlich niedrigen Betrag von circa 910 000 Euro. Klingt auf dem Papier erst mal viel, sind aber umgerechnet auch nur 91 Abendessen mit Jens Spahn. Und dafür die Aufregung?

Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem sich Arbeit nicht mehr lohnt.

Besorgte Grüße: Dax Werner

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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 8

Liebe Leser:innen,

Sie müssen mich sich nass geschwitzt vorstellen, wie ich diesen Longread soeben ins Google Doc tippe. Denn hinter uns liegt mal wieder eine außergewöhnliche Kalenderwoche in einem an Aufregungen und Skandalen bislang nicht gerade armen Jahr. Jedoch – wie man nun in einem Zeit-online-Text kurz vor der Bezahlschranke schreiben würde, da, wo langsam der Text verblasst – "der Reihe nach".

Wenn noch etwas dieses Land in Corona-Zeiten selbst vor leeren Studiopublikum-Rängen zusammenhält, dann ist es das dreimal wöchentlich aus Hamburg ausgestrahlte ZDF-Talkformat "Lanz" mit der namensgebenden Tiroler Moderationsmaschine Markus Lanz, der am Donnerstag Jubiläum feierte: 1500 Folgen mit sehr, sehr launigen Runden, sehr, sehr interessanten Lektüren, regelmäßig aufploppenden Erinnerungen an die Fotoreise nach Grönland und der Reportage-Reise in die USA (diese gespaltene Nation, die enttäuschten Menschen in Trump-Land, der rust belt), dem berühmt-berüchtigten Robin-Alexander-Zitat vom Kübel übelriechenden Zeugs, das sich die SPD in schöner Regelmäßigkeit über die eigene Birne kippt und das Lanz inzwischen häufiger rausgekramt hat als sein langjähriges Lieblingszitat von Das Bo aus dem Song "Türlich, türlich" (erschienen im Jahr 2000) – "Ich bring' ihm wieder Tanzen bei und rauch' da auch noch Pflanzen bei" –, Reinhold Messner auf dem Nanga Parbat, Markus Söder im Fleece-Zipper aus München zugeschaltet, Thomas Middelhoff mit Tränen in den Augen, Lauterbach, Bosbach, Kubicki und – wenn sie es gut mit uns meinen: Hajo Schumacher. Bislang galt: Egal wie sehr dieses Land erschüttert wird, egal wie scheiße der Tag im Büro lief – wenn Wir sind Helden das erste C im Titelsong "Nur ein Wort" anschrammeln, kommt man am späten Abend unter der Woche noch mal zusammen und zu sich. Doch an den Rändern beginnt es zu bröckeln.

Denn diese Woche war die Woche der Wut. Erst lud Lanz Heribert Prantl ein, der seit seinem Umzug von der SZ zur Welt offenbar an einer Art persönlichen rebranding arbeitet und den in vielen konservativen Kreisen für seine wissenschaftliche Nüchternheit verhassten Karl Lauterbach anging wie ein wildgewordener Stier: Prantl brüllte durchs Studio, drohte mit seinen Fingern, peitschte sich maximal auf und redete sich selbst in eine noch nie gesehene Rage. Prantl agierte so, wie man sich einen normalen Auftritt des Hobby-Bloggers und Rennradfahrers Don Alphonso bei Lanz vorstellen würde, also wie ein Feuer-Pokémon bei der Transformation oder ein weißer männlicher Kolumnist Ü50, dem man gerade mitgeteilt hat, dass er ab jetzt doch bitte in seinen Texten gendern soll. Schon nach dieser Ausgabe dachte ich, dass mehr Debatte in dieser Woche gar nicht möglich ist, doch dann kam der Donnerstag. Zunächst zitierte Lanz den Oberbürgermeister von Halle in die Aufzeichnung, der sich unter fragwürdigen Umständen eine Ladung geilen Impfsaft für den Eigenbedarf gesichert hatte, und grillte ihn unbarmherziger als Heinz Buschkowsky eine 12er-Packung Bratmaxe von Meica im sommerlichen Schrebergarten: Bernd Wiegandt ging im Grunde noch chancenloser in dieses Match als Axel Schulz bei seinem Boxkampf gegen George Foreman. Auch schon wieder 26 Jahre her. Und als hätte es der Talkshowgott in dieser Jubiläumswoche nicht schon gut genug mit uns gemeint, schaltete die Regie dann auch noch den sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff auf den 4K-Bildschirm im Studio. Anlass: Haseloffs private Öffnungsstrategie für Sachsen-Anhalt, zwei Tage vorher veröffentlicht.

Und jetzt wurde es so richtig geil. Hinterm Ministerpräsidenten glitzerte die Elbe verdächtig friedlich vor sich hin, und dahinter das makellose Magdeburger Stadtpanorama bei Nacht, Haseloff himself mit einer für TV-Aufzeichnungen eigentlich – das weiß ja selbst ich – ungünstig karierten Krawatte, über allem damit die Botschaft: Ich bin einer von euch, ich kann euch hören. Lanz attackierte von Beginn an auf Höhe der Mittellinie, bohrte nach, warum es der Südkoreaner besser mit der Pandemie hinbekommt als wir. Noch entschärfte Haseloff Lanz’ Aufbauspiel mit einfachen Mitteln: "Südkorea ist eine Insel", "Die Grenze zu Nordkorea ist praktisch dicht." Keine Erkenntnisse, mit denen man das Rad neu erfindet, aber solche, die ihren Zweck erfüllen. Erinnerte mich an einen Rat, den mein guter alter C-Jugendtrainer Berti mir mal mit auf den Weg gegeben hat: "Wenn die Pille in den Fünfer tropft, dann wichs’ dat Dingen in den Himmel!"

Irgendwann ging Haseloff dann von der Abwehr in den Angriff über und warf Lanz indirekt Ahnungslosigkeit vor, lud ihn jedoch noch im gleichen Atemzug zu einem Vor-Ort-Besuch in Sachsen-Anhalt ein. Jeder spürte es zuhause vor der Flimmerkiste deutlich: Der MP nahm das Heft jetzt in der Hand, gab zu Protokoll, dass er über das "Hü und Hott" in Österreich überhaupt nicht diskutieren wolle. Beim Thema Astrazeneca ging es dann richtig zur Sache: Haseloff machte ZDF und ARD für das schlechte Image des Impfstoffs verantwortlich, zwar leiste Lanz gute Aufklärungsarbeit, aber eben erst um 23 Uhr. Schon längst ging es hier nicht mehr nur um das Management der Corona-Pandemie, sondern um die grundsätzliche Formatierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: "Lassen Sie sich um 20:15 Uhr nach der Tagesschau oder nach heute platzieren und erzählen Sie das genau so wie jetzt hier!" herrschte Haseloff den Moderator an. Für viele Beobachter ging er hier den einen Schritt zu weit, ich hingegen begrüße den neuen Klartext-Haseloff, der das drängendste Problem dieses Landes endlich einmal beim Namen nennt: Warum läuft Lanz so spät? Dieser wollte das Thema (ganz der Profi) nur schnell abfrühstücken, doch Haseloff legte erst richtig los: "Da können wir gern tiefer reingehen! Diese Sendung hier gehört nach vorne und ein Quiz gehört nach hinten!" Der saß! Man kann sich nur vorstellen, welche Panik dieses Interview am Donnerstagabend bei Alexander Bommes und Jörg Pilawa ausgelöst hat.

Am Ende wurde diese Jubiläumswoche der deutschen Talkshowinstitution Lanz mehr als gerecht: So viel realtalk war selten. Hoffen wir, dass Haseloff mit seinen Bestrebungen, Lanz früher zu programmieren, Erfolg behält. Und auf weitere 1500 sehr, sehr spannende und launige Runden.

Euer: Dax Werner

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Dax Werners Debattenrückspiegel KW 6

Liebe Leser:innen,

Klima, Krise, Kapitalismus – wer sich noch an das Jahr 2019 erinnern kann, weiß: Schon vor Corona stand unsere Welt vor extremen Herausforderungen. Worauf die herkömmlichen, mitunter etwas angestaubt wirkenden Tools der liberalen Demokratie keine Antwort fanden, entpuppte sich jedoch für zwei einfache Jungs aus Berlin-Kreuzberg, Waldemar Zeiler und Philip Siefer, oder, wie sie sich selbst gerne nennen: "Waldophil", als extrem spannende Herausforderung. Egal ob Rassismus, Klimawandel oder Steuersätze für Hygieneartikel: Die Antwort konnte aus Sicht der beiden nur "E-Democracy" lauten. Jedoch ist die liquid democracy spätestens seit den Piraten nicht mehr das nächste große Ding. Es brauchte noch ein Topping, eine Prise basisdemokratisches Glitzer obendrauf. Was wäre also, wenn Waldophil es schaffen, 90 000 Demokratie-Fans im Olympiastadion zusammenzubringen und den Bundestag mit E-Petitionen zu bombardieren? Oder in anderen Worten: Mit einem Super Bowl der Demokratie die gesamte Welt an einem Tag zu "unfucken"? Was passiert, wenn wir uns wieder mal was trauen?

Zwei Jungs mit einem Traum in der Tasche – so lautet das einfache Rezept der neuen Erfolgsdokumentation "Unfck the World" des ProSiebenSat.1-Media-Streaminganbieters Joyn. Und wie immer, wenn Menschen einfach mal outside the box denken anstatt zehn Jahre Genderstudies auf dem Hildegard-von-Bingen-Kräutercampus zu studieren, ist das Gemotze im Internet natürlich groß. In der Dokumentarserie von Finbarr Wilbrink und Sonia Otto werden die schlechtgelaunten Hassposts aus dem Winter 2019 nicht verschwiegen, sondern zum Teil der Erzählung: Jan Böhmermanns obsessive Beschäftigung mit dem Thema findet ebenso Eingang in die Doku wie einige Tweetklassiker zum Thema von Jutta Ditfurth. Man stört sich an der Eventisierung demokratischen Prozederes, an dem Bezahlmodell, das Menschen mit weniger Einkommen ausschließe, und daran, dass das ganze Event im Grunde nur ein riesiges Marketing-Instrument für Waldemar und Philipp sei. Ein absurder Vorwurf, wie mir scheint: Davon abgesehen, dass Waldophil die zwei Gesichter der Kampagne sind, das Event in den Büros ihrer gemeinsamen Firma Einhorn geplant und in Form einer wohlwollenden Dokumentation später an Joyn verkauft wird, kann ich nun wirklich nicht erkennen, dass sich die beiden hier in den Vordergrund spielen. Es sind dies vielleicht auch ganz einfach die typisch deutschen Neiddebatten, denn, so Philip, "in den USA sind politische Events inzwischen vollkommen normal".

Dabei hatte alles so gut angefangen. In den ersten Sekunden begleiten wir Zuschauer:innen Waldophil auf dem Weg ins Berliner Olympiastadion zu den ersten Verhandlungen. Schon wenige Sekunden später ist alles unter Dach und Fach: "Datum ist der 12.06. Haben wir gekriegt. Sie reservieren uns das für drei Monate. Eigentlich zahlt man eine Strafgebühr, wenn man den Termin nicht wahrnehmen kann. Die haben sie uns gewavet! Das ist ein huge success." Philipp und Waldemar sind mir vielleicht auch deshalb so sympathisch, weil sie so reden und denken, wie ich hier in dieser Kolumne schreibe. Vielleicht sind wir so was wie Brüder im Geiste? Entsprechend leide ich mit, als es in Folge 2 "Im Auge des Shitstorms" PR-technisch so richtig zur Sache geht. Ungläubig starren Waldophil auf ihren Laptop, einer murmelt: "Warum schreibt Böhmermann das?"

Und es gibt sie auch, die Momente des Zweifels. Zum Beispiel einmal im Einhorn-Büro, da sitzt Waldemar, gerade aus dem Scheidenkostüm vom Edition F-Kongress geschlüpft, auf einer Couch und sagt zu Philipp: "Vielleicht haben wir auch alles überstürzt." Doch Innovation lebt natürlich von trial and error. Deswegen geht’s in Folge 5, "Aufstehen und Weitermachen", auch ins creative retreat nach Alt-Madlitz mit Maja Göpel, in ein Landhaus, das exakt so aussieht, wie man sich das Anwesen der Kubitscheks in Schnellroda nach den Spiegel-Reportagen immer vorgestellt hat. Lichtdurchflutete Räume, unverputztes Mauerwerk und nach draußen der unverstellte Blick auf die Natur. So ein Ambiente hilft natürlich, sich auf seine Stärken zu besinnen: "Wir haben 50 000 Fans auf Instagram, wir haben mehr als die SPD", philosophiert Zeiler.

Nach einer anonymen Großspende, über deren Ursprung wir leider nichts erfahren, und einem Redesign im Vertriebsmodell schafft man dann, wonach es lange nicht aussah: Die Crowdfunding-Kampagne zum Megaevent in Olympia ist gefuckt. Nachdem das Team gegen alle Wahrscheinlichkeiten und Widerstände also doch noch genug Karten verkaufte, konnte ihnen nur noch ein Katastrophe globalen Ausmaßes einen Strich durch die Rechnung machen: Die Chinaseuche, oder wie es im Titel von Folge 6 heißt: "King Corona". Bei aller Enttäuschung über das geplatzte Event überwiegt für Zeiler zum Schluss trotzdem die Hoffnung: "Es fühlt sich gut an, dass, obwohl das Event jetzt nicht stattfindet, es Leute trotzdem motiviert hat, Sachen zu machen." Eine schöne Beobachtung, die ich bestätigen kann: Die Doku hat mich zum Beispiel motiviert, gegen jede Wahrscheinlichkeit für einen Tag zum Joyn-Kunden zu werden.

Kämpft weiter für seine und eure Träume: 

Euer Dax Werner

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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt