Dax Werners Debattenrückspiegel KW 10
Hey fellow Millennials,
wer erinnert sich noch? 2009 tauchte ein Live-Mitschnitt von Gunter Gabriel aus dem Knust in Hamburg auf, in dem er die Nerv-Hymne überhaupt, nämlich "Creep" von Radiohead – mit über 600 Millionen der most-streamed Song der Band – coverte und mit einem ganz persönlichen Text auf Deutsch ausstattete. Darin verquickt Gabriel die persönliche politische Standortbestimmung im wiedervereinten Deutschland mit Überlegungen zur eigenen Endlichkeit: "Wo war ich '68? Wo beim Mauerfall? Was ist mein Vermächtnis? Eine in Stein gehauene Zahl." Johnny Haeusler schrieb dazu damals auf Spreeblick: "Herausragend. In seiner OMFGigkeit."
Inzwischen hat sich einiges getan. Radiohead gelten inzwischen – TikTok sei Dank! – als red-flag-Band par excellence, als der Inbegriff von male manipulator music. Und Gunter Gabriel ist seit 2017 tot. Aber nicht vergessen. Denn um sein Vermächtnis kümmern sich nun zwei andere ehrliche norddeutsche Männer in der Netflix-Doku "Das Hausboot", nämlich Fynn Kliemann und Olli Schulz. Bei dieser Gelegenheit Dank an Giulia Becker, der es mithilfe eines einzigen Twitter-Threads gelang, den "norddeutschen Mann" als feststehenden Ausdruck zu etablieren. Die beiden holen mich jedenfalls erst mal koordinatengenau da ab, wo ich stehe: Bereit für eine Bromance-Comedy rund um zwei Kulttypen und ein mehr als schrottreifes Hausboot aus dem Nachlass von Gabriel, über alledem das mindestens diffuse Air des selbsternannten deutschen Johnny Cash. Locker-flockig runtergeschnitten auf vier snackable Folgen sind sie die perfekte Beschäftigung für einen Lockdown-Abend 2021. Geil, geiler, obergeil!
Noch in der Nacht überlegte ich mir ein paar extrem heiße Takes zur Dokumentation, die ich am nächsten Tag jedoch leider erfolglos einem anderen heruntergekommen Hausboot in Berlin angeboten habe. Wer will, kann sie sich ja copypasten und selber veröffentlichen!
1. Die beiden Nordlichter silencen mit ihrer Hochglanz-Doku das working class heritage von Gunter Gabriel ("Hey Boss, ich brauch mehr Geld").
2. "Das Hausboot" als ultimative Metapher für den sozialen Umbau der Agenda 2010, die geistig-moralische Wende der Schröderjahre. Der Arbeiter wird sprichwörtlich aussortiert und entsorgt, muss Platz machen für hypergenerische, seelenlose Architektur und einen Streetfood-Camper mit Tim Mälzer am Steuer.
3. Kein Wunder, dass Wolfgang Thierse im Kielwasser dieser Doku plötzlich aufgetaut wird: Er wird zum Symbol für die Aussortierten, die Abgehängten, kurz: Die Normalen. Ehrliche Typen mit dem Herz am rechten Fleck, denen einfach ab und zu mal die Hand ausrutscht, die es aber nie "so" meinen.
Wenn es gilt, eine Haltung zum Phänomen Fynn Kliemann zu finden, geht es mir im Grunde ein bisschen so, wie wenn ich mit Plusterhose tragenden Menschen konfrontiert werde, die gerade ihre Bachelor-Thesis in Sozialer Arbeit geschrieben haben und die Semesterferien dazu nutzen, mit Querdenken-Chef Michael Ballauf in Stuttgart gegen 5G-Masten anzuflöten, denn auch dort frage mich ständig: Was ist, wenn sie doch recht haben? Und es stimmt ja: In der Zeit, in der ich über neue Memes und Gags zum männlichen Teil der Familie Laschet brüte, gründet Fynn Kliemann 2 Start-ups, baut einen Freizeitpark und macht 40 000 Euro Profit durch Hochfrequenztrading mit Kryptowährungen. Nervt einen natürlich, wenn man darüber nachdenkt. Aber ist es nicht irgendwie auch geil, dass die beiden dieses beschissene Boot für ziemlich optimistische 20 000 Euro kaufen und dann noch mal fast eine halbe Million in die Reparatur stecken?
Hier würde ich gerne ein "Na ja" setzen, aber in dieser langgezogenen Harald-Welzer-Tonlage. Nichts gegen gute Vorher-Nachher-Unterhaltung à la VOX, aber schwierig wird die Doku dort, wo sie das Boot als eine Art Gunter-Gabriel-Gedächtnisprojekt etikettiert. Kliemann: "Ich hab' mich ja mit Gunter nie so richtig befasst, ich weiß nur, dass er irgendwie coole Sachen gemacht hat. So in Form von 'Leute motiviert' und irgendwie ein kreatives Zentrum versucht zu erschaffen. Ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich so etwas ist wie sein letzter Wunsch, ist mir eigentlich auch scheißegal, ich fand halt den Kahn cool und er stand halt mitunter für coole Sachen." Gabriel hat bestimmt richtig coole Sachen in seinem Leben gemacht, wurde aber auch immer wieder durch Gewalt gegen Frauen und Gewaltandrohungen (übrigens gut dokumentiert) auffällig. Das lief vielleicht noch bis vor ein paar Jahren unter "So sind sie halt, die Genies!". Wenn man 2021 eine Doku über sein Hausboot macht, kann man das aber mal problematisieren. Auch wenn "abkultförmig" immer noch der natürliche Aggregatzustand zwischen norddeutschen Männern zu sein scheint.
Anyway, habe jetzt auf jeden Fall extrem Bock auf ein eigenes Hausboot bekommen!
Liebe Grüße,
euer Dax Werner
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