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TITANIC Meinung: Dummheit und Scholz

von Michael Ziegelwagner

Polit-Deutschland rotiert. Früher als erwartet ist die Katze aus dem Haus und geht uns auf den Sack: Olaf Scholz, der uncharismatische Kommisskopf aus Hamburg, der eiskalte Finanzclown mit dem Herz aus Geld, der Deus cum-ex machina der SPD, führt seine Partei in die nächste Bundestagswahl. Was noch vor drei Jahren, zu Schulz-Zeiten, wie ein dummer Schreibfehler gewirkt hätte, der uns ein U für ein O vormachen möchte ("Ulaf"), ist nun bittersüße Realität. Kanzlerkandidat Scholz. Wie konnte es soweit kommen?

Experten wie ich sind längst im Bilde. Denn die Antwort, warum es Scholz und kein anderer werden musste, ist simple Mathematik. Bzw. simples Alphabet: Seit 26 Jahren sucht die SPD ihr Heil darin, immer und immer wieder Männer mit einem S vornedran zu nominieren – Scharping, Schröder, wieder Schröder, nochmals Schröder, Steinbrück und Steinmeier, Schulz und Scholz. Das habe ich bereits 2017 in einer vielbeachteten Analyse nachgewiesen, die Sie jetzt noch einmal aufmerksam lesen und sich auf der Hirnrinde zergehen lassen können.

Die Wahrheit ist: Aus dem S-Dilemma gibt es keinen Ausweg. Die lähmende Angst, sich für den falschen Buchstaben zu entscheiden, sitzt der Sozialdemokratie bis in alle Ewigkeit tief im Nacken. Und es wird immer schlimmer. Ein Blick zurück: Mit Schröder lief es anfangs gut, danach passabel, beim dritten Mal so lala – warum das Erfolgsrezept ändern? Entsprechend strukturkonservativ die Entscheidung, den glücklosen Steinmeier (2009) im nächsten Anlauf durch einen anderen, ähnlich klingenden Steintypen zu ersetzen (2013). Jetzt, da es eigentlich das Jahrhunderttrauma Schulz (20,5%) zu verarbeiten gälte, scheint das Risiko, ganze Silben auszutauschen, zu groß: Nur ein winziger Vokalwechsel durfte es sein. Nächtelang tagten die Gremien, um bei Tag zu nächtigen; erwogen Schülz, Schalz und Schælz und ersetzten am Ende das mutlos unmusische U durch ein stolz strotzendes O. Ottos Mops kotzt formlos: "No-go."

Ist damit der Drops gelotscht? Mal langsam. Scholzens Chancen sind tadellos, ja nachgerade glänzend. Eine große Überraschung, wenn man diesen Artikel bis hierher gelesen hat! Denn ausgerechnet jetzt begeht auch die Union den Kapitalkardinalfehler, sich mit einem S-Kandidaten ins eigene Knie zu manövrieren. Scholz/Söder, Scho/Sö – die Chosö verspricht, interessant zu werden. Denn wenn die Union je gegen einen S-Mann aus der SPD verlieren sollte, dann mit einem S-Mann aus Bayern. Ob Strauß gegen Schmidt oder Stoiber gegen Schröder: Die Kombination SS ist in Wahrheit Scholzens einzige Chance. Ihm könnte ein coup de grâce gelingen, der seinesgleichen sucht.

S ist, was S ist, sagt die Liebe bzw. der Erich Fried. Die Zeichen der Zeit stehen auf fünf vor zwölf. Dass die Ära dummer Wortspiele vorbei ist, haben Norbert Walter-Boring und Saskia Eskimo mit schaumschlägerischer Sicherheit erkannt, als sie ihren Kandidaten aus der Traufe gehoben haben. Sollte es schiefgehen, bleibt der SPD immer noch das Exil. Wobei, ins Exil soll man ja derzeit nicht, wegen Corona.

Dann also doch gewinnen. Alles Gute, SPD!

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Meditation und Markt mit Dax Werner

Augmented reality

Liebe Leser_innen,

bitte einmal kurze Rückmeldung per Mail: Wer von euch war damals auch so Pokémon-Go-süchtig? Wir erinnern uns: Man lief stundenlang mit Smartphone und Powerbank durch die Gegend und ständig erschienen aus dem Nichts wilde Evoli, Karpadors und Pummeluffs. Pokéball draufgecurved, in den Pokédex registriert und weiter ging die geile Jagd! Das Geheimnis des Pokémon-Go-Erfolgs: Die App legte sozusagen einen neuen, viel spannenderen Layer über die bis dahin bekannte Realität. Stichwort augmented reality.

Der große Pokémon-Hype ist zwar fürs Erste schon wieder vorbei, aber das Prinzip der erweiterten Realität ist geblieben. Zum Beispiel mit der Corona-Warn-App ("Funktioniert sie oder funktioniert sie nicht? Hab ich’s vielleicht schon gehabt? Aufregend!"), aber auch in Bezug auf Verschwörungstheorien (oder wie wir im Internet inzwischen woker sagen: Verschwörungsmythos!). Noch das Bedeutungsloseste sieht man mithilfe von Verschwörungsmythen plötzlich in einem zwar komplett ausgedachten, dennoch viel phantasievolleren Bedeutungszusammenhang, 5G-Masten werden von Einrichtungen des neuesten Mobilfunkstandards zu Covid-19-Verstärkern, Donald Trump zum Retter der Menschheit und Bill Gates zum Impf-Endgegner: Für Verschwörungsmystiker_innen ist die Welt in Zeiten der Pandemie ein riesiges interaktives Rollenspiel geworden.

Dieses Live-Action-Roleplay (LARP) ist nun aber spätestens seit der Corona-Pandemie kein Exklusiv-Zeitvertreib von ohnehin auch sonst wenig zurechnungsfähigen Zeitgenossen mehr: Bei der Anti-Corona-Demo in Berlin am vergangenen Wochenende tummelte sich neben QAnons, Hippies, Rechtsextremen und Nudisten eben auch das pensionierte Lehrer-Ehepaar aus Stuttgart-Zuffenhausen, durch die explosive Mischung aus Lockdown-Langeweile und Youtube-Algorithmus binnen Wochen von den besten Volker-Pispers-Auftritten über die Nachdenkseiten zu KenFM und Coronaverschwörung hochgelevelt. Oder wie man auch sagen könnte: Gamifiziert.

Und noch bevor du factcheck buchstabieren kannst, findest du dich an einem heißen Samstag auf der Straße des 17. Juni neben einem in Pluderhose und Merinowolle-Oberteil gegen 5G-Masten anflötenden Medizinmann wieder und tanzt dich zu Heiko Schrangs Enthüllungen in Trance.

Schwamm drüber, kann passieren. Auch ich verbringe manchmal viel Zeit im Internet. Wenn man den intellektuellen Vordenker_innen der Republik glauben darf (und ich will ihnen glauben), ist es für uns Netflix-Globalisten und hyperironische Internet-Satiriker jetzt nicht an der Zeit für die üblichen Reflexe (Memes, Faktenchecks, change.org-Petitionen), die inzwischen nur noch so hilflos wirken wie Trumps Covid-19-Krisenmanagement; nein, für uns steht jetzt ein bullet point ganz oben auf der To-Do-Liste: Wir müssen das Gespräch mit denen suchen, die noch nicht ganz abgedriftet sind, die aufgewachten Schafe wieder einfangen und neues Feuer entfachen für das faktenbasierte liberale Projekt. Wenn wir die Deutschland AG nach den jüngsten Katastrophen-Quartalszahlen wieder auf Kurs bringen wollen, ja wenn Peter Altmaiers Traum vom wiedereinsetzenden Wirtschaftswachstum ab Oktober nicht bloß Traum bleiben soll, dann müssen wir zuallererst eines akzeptieren: Der Ball liegt in unserer Spielhälfte. Es geht um unser Land.

Wieder einmal machen die entrepreneurs in den Staaten und dem Silicon Valley vor, wie es gehen kann: Während in Deutschland noch heiß debattiert wird, ob Thalia die Bücher von Attila Hildmann verkaufen darf, generiert Amazon-Boss Jeff Bezos mit den bahnbrechenden Studien Heiko Schrangs ("Die Jahrhundertlüge, die nur Insider kennen", 24,90 €, gebunden, bitte so schnell es geht mit Prime an mich) und der QAnon-Bibel "An Invitation to The Great Awakening" (führte letztes Jahr die Amazon-Toplisten an) an Cancel-Twitter vorbei ein nicht gerade kleines passives Nebeneinkommen. If you can't beat them, join them. Hoffentlich hat Bezos bald genug verdient, um sein Raumschiff zu bauen!

Vielleicht müssen wir diesen ganzen Wahnsinn einfach proaktiv umarmen, so wie der reichste Mann der Welt. Mehr noch: Vielleicht endet das Spiel ja in dem Augenblick, wenn Fr. Merkel laissez-faire in einem ihrer Regierungspodcasts verkündet, dass alles, was sich die truther so ausdenken, wirklich wahr ist. Dass sie die ganze Zeit – mit was auch immer – Recht hatten. Dann hätten sie ihr Spiel gewonnen, wir unsere Ruhe und wir könnten uns alle gemeinsam wieder dem widmen, was wirklich wichtig ist: Wertschöpfung und Innovation für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Der Pokémon-Go-Hype endete damals für mich, als die Arenakämpfe immer verbissener wurden. Lasst uns die ideologischen Waffen ablegen und zusammen in eine neue sonnige Zukunft blinzeln.

Pack ma's, euer Dax Werner

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Inside TITANIC (30)

Intime Einblicke in das Innere der TITANIC-Redaktion und ihrer Mitglieder. Heute: Redakteur Leo Riegel über "Schöne Tage" und perfektes Timing.

Oft ist es bei der Komik ja alles eine Frage des Timings. Wie lang ist die Pause vor der entscheidenden Zeile im Dialog? Wie stark spitzt sich die Erzählung vor der Pointe zu? Muss die Pointe überhaupt ans Ende? Man feilt so vor sich hin und freut sich, wenn's gelingt. Manchmal, wenn auch selten, ereignet sich so ein präziser Schlagabtausch auch im echten Leben. Ein Teil der TITANIC-Redaktion stand vor kurzem rauchend und Bier trinkend in dem von weiteren Anwohnern genutzten Innenhof und spielte irgendeine Witzidee durch. Anscheinend ziemlich lange, jedenfalls kam Korrekturleserin Kristin Eilert von unserem immer wieder aufbrandenden Gelächter genervt irgendwann hinausgeeilt. Ob uns schon mal in den Sinn gekommen sei, dass wir möglicherweise die Nachbarn stören? Da entstand eine peinliche Stille, die wiederum von dem Quietschen eines schräg über uns sich öffnenden Fensters beendet wurde. Es war die Nachbarin, die uns mit einer Flasche in der Hand fröhlich zuträllerte: "Wer will Eierliköhöör?" Wenig überraschend, dass das Gelächter daraufhin doppelt so laut wieder losbrach. Nur die Nachbarin, die nicht ahnte, mit welch sketchreifem Timing sie auf der Bildfläche erschienen war, schaute etwas verdutzt drein.

Nachtrag: Falls es Sie verwundert, dass am helllichten Arbeitstag in der TITANIC-Redaktion Alkohol getrunken wird, möchte ich von einer Praxis aus früheren TITANIC-Zeiten erzählen, von der ich selbst erst vor kurzem hörte, nämlich von dem "Schönen Tag". Der "Schöne Tag", so wurde mir erklärt, beginnt damit, dass ein Redaktionsmitglied ins Büro kommt und vorschlägt, einen "Schönen Tag" zu machen, woraufhin die Redaktion den Rest des Tages saufend im Biergarten verbringt. Ende. Leider ist von dieser Praxis nicht viel übrig geblieben. "Halbe schöne Nachmittage" kommen aber durchaus noch vor. Der oben erwähnte und dankend entgegengenommene Eierlikör hat den Tag zumindest nicht überlebt.

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Meditation und Markt mit Dax Werner

Kaufmann der Gefühle

Liebe Leser_innen,

neulich musste ich richtig staunen: Der britische "Guardian" hat ein 100 Seiten langes Porträt über Julian Reichelt veröffentlicht und nennt ihn darin einen "emotional entrepreneur". Ich dachte, um es mit einem Roman von Biker-Legende Thomas Glavinic zu sagen: Das bin doch ich! Ein Großhändler der Regung! Doch bevor ich der wurde, der ich heute bin, gab es ein Leben davor. Eines, von dem ich heute berichten möchte.

Denn da war ich noch jemand ohne Reichweite im Netz, der mit seinen Meinungen und Thesen zu allen möglichen Themen lediglich seinen Mitbewohner_innen und den 14 Freund_innen auf Facebook auf die Nerven gehen konnte.

Sagen wir es, wie es ist: Ich war ein Underperformer, ein Low-Achiever, einer von denen, die ihre eigene Unzulänglichkeit auf ihre Umwelt projizieren, weder mit sich noch mit irgendetwas anderem im Reinen. Mehr noch: Ich stand meinem eigenen Erfolg selber im Weg.

Ich brauchte einen kleinen Stups vom Schicksal. Und dieser erreichte mich in Form einer heruntergekommenen Litfaßsäule auf einem dreckigen Bahnhofvorplatz: "Call-Center-Agent gesucht! Attraktive Provisionsmodelle! Einstieg sofort!"

Für viele ignorante Menschen sind Call-Center ja nachgerade die formvollendetsten Manifestationen des Spätkapitalismus, Labyrinthe aus Zuständigkeiten, in denen man nie die eine Person an den Apparat bekommt, die einem wirklich weiterhelfen kann.

Ja, so dachte ich damals auch. Die ersten Wochen waren mühsam, ich machte kaum Scheine, zweifelte von früh bis spät an mir selbst. Während meine Kolleg_innen sich morgens um 8 die erste Monster Energy reinjagten, bis 18 Uhr durchtelefonierten und alles Mögliche und Unmögliche am Telefon verkauften, träumte ich mich immer wieder durch die Fensterscheiben unseres Großraumbüros zurück in mein altes Leben. Doch auch da war kein Platz mehr für mich: Ich war zu einem Wanderer zwischen den Welten geworden.

Und dann, an einem Dienstag im April, nahm mich unser Sales Coach Richie zur Seite und gab mir diese eine entscheidende Frage mit auf den Weg, von der ich bis heute zehre: "Du musst den Kunden direkt fragen: 'Kunde, bist du glücklich?' Und dann sagt er: 'Ja, ich bin glücklich!'" Fiebertraum, Epiphanie, endlich sah ich klar: Ich bin ein Händler der Gefühle, ein Kaufmann der Emotionen! Das war meine Bestimmung, mein destiny!

Mein Weg führte mich rasch an die Spitze der Verkaufscharts und schnell danach raus aus dem Call-Center, auf meinen eigenen Weg. Doch diese eine Sache habe ich in den wenigen Tagen als Mobilfunkvertragshändler gelernt: Telefoniert wird immer, Kaffee wird immer getrunken und emotionaler Content wird immer gebraucht!

Vielleicht konnte ich dir heute mit dieser kleinen Anekdote weiterhelfen.

Dein Dax Werner

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Inside TITANIC (29)

Intime Einblicke in das Innere der TITANIC-Redaktion und ihrer Mitglieder. Heute: Redaktionspraktikant Teja Fischer über scharfe Zungen in weichen Zügen.

Die ersten Kommentare meiner Kollegen:

Prima!
Spitze!
Weiter so!
Hut ab!

Und dies bereits, nachdem ich wie verabredet gegen 11 Uhr in die angenehm verschattet gelegene Redaktion gefunden hatte.

Normalerweise weicht der Schreck über eine neue soziale Umgebung nach etwa einer Woche aus meinem Gesicht. Hier musste ich schon am zweiten Tag nur noch einstellig auf Toilette. Unter den – auch temporären – Mitgliedern der TITANIC-Redaktion scheint eine auf spezielle Weise defizitäre Atmosphäre zu herrschen. Die überaus leidenschaftliche Satire-Arbeit zieht offenbar so viel Schärfe, Angriffslust und Empörungskräfte aus ihren zarten Gemütern, dass sie füreinander nur noch gute Laune übrig haben.

Ich muss das noch weiter vertiefen, aber einige Details im Umgang miteinander scheinen meine Theorie zu stützen: Man redet nicht übereinander, sondern miteinander – oder mit sich selbst. Die einzige Macht im Haus zirkuliert paritätisch zwischen den beiden, die aktuell die Toiletten besetzen. Es gibt ganze 0,25 Kühlschränke pro Mitarbeiter, in denen meistens sogar was Kühles drin ist. Und über Geld spricht man nicht – aber nur, weil eh jeder gleich viel bekommt, egal ob Redakteur, Assistent oder Praktikant.

Im Prinzip also die exakten Koordinaten für ein Arbeiten, wie es sein sollte. Die ewige Utopie, von der wir alle träumen, während wir vor Sonnenaufgang willfährig ins Büro stolpern, das El Dorado für unsere verkümmerten Seelen – es liegt mitten in Frankfurt.

Und bringt auch mich selbst so überraschend gut drauf, dass ich mich nicht mal mehr darüber aufregen kann, wie unverschämt lang die Rotphasen für Fußgänger in dieser Stadt sind. 

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Meditation und Markt mit Dax Werner

Erinnerung, sprich

Liebe Leser_innen,

im Februar dieses Jahres hatte ich das große Glück, einen leisure day in der Ländle-Metropole Stuttgart (oder wie ich als Kenner inzwischen sage: 0711 Stuggi-Benz-Town) zu verbringen, noch bevor ein paar Dutzend Halbstarke das schwäbische Kleinod in Schutt und Asche legten. Die Rede ist natürlich von dem Wochenende, das als "Stuttgarts Stunde Null" ins kollektive Gedächtnis eingehen sollte. 9/11 im Ländle.

Nachrichten aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt erreichen uns bekanntlich seither nur noch unregelmäßig, die seltenen Tweets des aus Stuttgart stammenden Kollegen Cornelius W. M. Oettle lesen sich noch kryptischer, diffuser als ohnehin sonst: So zwitscherte Oettle zuletzt vor 16 Stunden "Als echter Stuttgarter trinke ich natürlich STUGGI SCHORLE" an seine 15 000 Follower. Gedanken, ja fast Beschwörungen von einem, der das new normal noch nicht akzeptieren kann oder will: Das Stuttgart, wie wir es kannten, existiert nicht mehr.

Umso kostbarer erscheinen mir heute die Erinnerungen an das Stuttgart, wie es inzwischen nur noch auf Postkarten existiert. Rückblende, Februar 2020: Die A8 runterjagend lassen wir Nürtingen links liegen, im Autoradio läuft das neue Album von Max Herre, gemeinsam mit dem immerjungen Lockenkopf träumen wir uns nach “Athen”. Die Sonne geht langsam auf, wir liegen gut in der Zeit. Und steuern einen Second-Hand-Laden an, in dem ich einige Jeanshemden mit Tiermotiven anprobiere, dann aber doch nicht kaufe, weil mir 120 Euro für ein Textil mit edlen Pferden, welche einen Fluss passieren, einfach als verdächtig wenig Geld erscheint.

In Gedanken war ich noch ganz bei den Hannoveranern, die wild entschlossen den Bach bezwingen, als ich im Hinterhof in ein Fotoshooting mit zwei Frauen stolpere. Erst viel später erklärt mir unser Guide: Das im Hinterhof waren die beiden Internet-Stars Lisa und Lena, die zu Spitzenzeiten mal über 32 Millionen Follower_innen auf TikTok hatten.

Ich hatte von den beiden noch nie vorher gehört, und unter uns Millennials gehörte es bis vor kurzem ja auch noch zum guten Ton, "echt nicht zu wissen, was da auf TikTok abgeht!", aber seien wir ehrlich: Spätestens seit selbst 7-Zwerge-Star Martin "Maddin" Schneider (Baujahr 1964) mit seinem rätselhaften bis gruseligen Content eine halbe Million Follower_innen beim chinesischen Datenvampir erspielt hat (mancherorts nennt man ihn schon den "El Hotzo von TikTok"), geht auch bei uns nach 1985 Geborenen die Angst um: Ist die augenzwinkernde Caption über dem erotischen Robert-Habeck-Foto mit 200 Favs offenbar doch gar nicht mehr der heißeste Scheiß im Internet? Mutieren wir zu den neuen Boomern? Die Social-Media-Uhr tickt gnadenlos.

TikTok ist neben allem anderen auch die Plattform, die Menschen eine Reichweite verschafft, die in Deutschland noch nicht den Führerschein machen dürften. Erst neulich machte ein TikTok die Runde, in der eine Vertreterin der Generation Z – also der nach 2000 zur Welt gekommenen – den Finger gnadenlos in die Millennial-Wunde hielt: Unser Harry-Potter-Buzzfeed-Lifestyle-Liberalismus ist nicht woke, sondern peinlich. Rumms, Treffer. Der sitzt.

Doch wir Millennials geben nicht so schnell auf und schlagen mit unseren Millennialwaffen zurück: Unterbezahlte Artikel für irrelevante Medien schreiben und diese dann auf unseren randständigen sozialen Plattformen posten. "Demokratisierung der dance culture hin oder her, der Chinese will nur ans Öl des 21. Jahrhunderts: unsere Daten." Fertig ist der Artikel, ab dafür ins Internet. 

Allein, man fragt sich, wie lang das noch so gut gehen kann. Wir "Jahrtausender" lebten zwar lange (wie jetzt immer noch) ohne Geld und Karrierechancen, hatten aber wenigstens die Deutungshoheit im Internet, verwalteten relativ ungestört unsere kulturelle Hegemonie zwischen Bits und Bytes. Stuttgarts 9/11 vor zwei Wochen zeigt jedoch, wie hart die Realität mitunter hitten kann.



Take care, fellow millennials.

Euer Dax Werner

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Inside TITANIC (28)

Intime Einblicke in das Innere der TITANIC-Redaktion und ihrer Mitglieder. Heute: Redakteurin Paula Irmschler über das geheime richtige Leben der Kollegen und wie das die Kreativität befruchtet.

Von dem was die Redaktionsmitglieder im Büro und daneben machen, haben wir in den vergangenen Folgen ja schon genug "gehört". Was viele jedoch nicht wissen: Es sind gar nicht immer alle da. Einige kommen nur sehr selten "mal kurz rein", auf manche wartet man ewig und von anderen kann man die "Fresse nun echt nicht mehr sehen" (anonymer Brief aus dem Kummerkasten).

Also, was passiert, bevor alle im Geschäft eintrudeln, was bringen sie mit, wo gehen sie nachher hin? Haben Sie noch weitere Jobs oder gar ein richtiges Leben? Was passiert "outside TITANIC"?

Es ist zum Beispiel so, dass die meisten TITANIC-Mitarbeiter nicht mal in Frankfurt oder gar in Deutschland wohnen. Ella Carina Werner verbringt den Großteil des Jahres auf einer Mallorca-Finca mit ihrer Frau und einigen Hunden. Ein paar Tage im Jahr kommt sie mit dem Privatflugzeug in die Redaktion "reingejettet" und bringt allerlei spanische Köstlichkeiten vorbei. Dann müssen wir erzählen, was wir wieder Verrücktes vorhaben und sie lacht über uns einfache Holzköpfe und sagt dann an, was wirklich Themen von Welt sind. Toll.

Martina Werner führt auch ein gutes Leben. Neben ihrer Layouttätigkeit, die sie "zum Abschalten" macht, führt sie eine erfolgreiche Whisky-Bar in Hamburg-Nord. Dort lässt sie schon lange nur noch für sich arbeiten und sich das Trinkgeld der Mitarbeiter schicken, um es direkt in die Kaffeekasse bei TITANIC zu werfen. Lieb!

Torsten Gaitzsch bringt von seinem Nebenjob das Intellektuelle mit. Er doziert als Professor an der Uni Gießen über "Primitive Witztechniken" und "Pferde" und verheimlicht dort seine Tätigkeiten beim Frankfurter Satiremagazin. Ein Hobby, das ihm mittlerweile Geld und Probleme bringt, ist das Fangen und Verkaufen von Wildvögeln an seiner Pendelwohnung in Sachsenhausen. Ein Verfahren läuft. Komische Gestalten besuchen uns neuerdings an der Redaktion und wollen Gaitzsch dringend sprechen. Er kommt schon länger nicht mehr.

Fabian Lichter und Moritz Hürtgen sind richtige Frankfurter und leben gemeinsam in einem linksradikalen Wohnprojekt in Offenbach. VoKü, Plena und Co-Parenting, das ist ihre Welt. Und das spürt man auch in den Konferenzen. "Mehr Haltung" fordern sie immer wieder im Einklang, diskutieren aber auch viel untereinander über Materialismus und Identitätspolitik, schneiden Artikel aus Zeitungen aus, die sie sich gegenseitig auf den Schreibtisch legen. Schade, aber auch ziemlich süß. Dauernd müssen sie auf irgendwelche Demos und tippen konspirative Nachrichten über den Messengerservice "Signal". Wenn sie erstmal in unser Alter kommen, werden sie schon sehen, wie schwer das mit der Weltrettung ist, aber auch wir brauchen die verrückten jungen Leute, warum nicht.

Über die anderen Redaktionsmitglieder werde ich irgendwann in einem zweiten Teil berichten, die muss ich erstmal auf einen gemeinsamen Kaffee "erwischen". Aber ich ahne da schon einiges … Stichwort Aktien (Hardy Burmeier), Hochzeitsband (Leo Riegel), Bauernhof in der Eiffel (Tom Hintner) und so weiter (Drogensucht). Ich selbst hingegen lebe nur für TITANIC und bin immer da.

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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ei Gude, Nancy Faeser!

Ei Gude, Nancy Faeser!

Als Bundesinnenministerin und SPD-Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl stellen Sie im Wahlkampf wöchentlich eine weitere Verschärfung des Asylrechts in Aussicht, um bei Ihren stockkonservativen hessischen Landsleuten zu punkten. Das Dumme ist nur, dass Sie damit bis jetzt bei Ihrer Zielgruppe nicht so recht ankommen. Der sind Sie einfach zu zaghaft.

Da hilft nur eins: Klotzen, nicht kleckern! Ihr Amtsvorgänger Horst Seehofer (CSU) hat es doch vorgemacht und sich über die Abschiebung von 69 Afghan/innen an seinem 69. Geburtstag gefreut! Das haben alle verstanden. Tja, Ihr 53. Geburtstag am 13. Juli ist schon rum, die Chance ist vertan! Jetzt hilft nur noch eins: gemeinsame Wahlkampfauftritte mit Thilo Sarrazin!

Und flankierend: eine Unterschriftensammlung gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die es Migrant/innen erleichtert, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne die eigene aufzugeben. Für Unterschriftenaktionen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft sind die Hess/innen seit jeher zu haben (»Wo kann ich gegen die Ausländer unterschreiben?«). Und dass Sie damit gegen Ihren eigenen Gesetzentwurf agitieren – das werden die sicher nicht checken!

Darauf wettet Ihre Wahlkampfassistenz von der Titanic

 Du, Krimi-Autorin Rita Falk,

bist mit der filmischen Umsetzung Deiner zahlreichen Eberhofer-Romane – »Dampfnudelblues«, »Sauerkrautkoma«, »Kaiserschmarrndrama« – nicht mehr zufrieden. Besonders die allerneueste Folge, »Rehragout-Rendezvous«, erregt Dein Missfallen: »Ich finde das Drehbuch unglaublich platt, trashig, stellenweise sogar ordinär.« Überdies seien Szenen hinzuerfunden worden und Charaktere verändert. Besonders verabscheuungswürdig seien die Abweichungen bei einer Figur namens Paul: »Der Film-Paul ist einfach ein Dorfdepp.«

Platt, trashig, ordinär – das sind gewichtige Vorwürfe, Rita Falk, die zu einer vergleichenden Neulektüre Deiner Romane einladen. Da fällt uns übrigens ein: Kennst Du die Geschichte vom Dorfdeppen, der sich beschwert, dass der Nachbarsdorfdepp ihn immer so schlecht imitiert?

Wär’ glatt der Stoff für einen neuen Roman!

Finden Deine Trash-Flegel von Titanic

 Puh, 47jährige,

bei Euch läuft es ja nicht so rund gerade. »Nur mit Unterhose bekleidet: 47-Jähriger flippt an Trambahn-Haltestelle aus« müssen wir pfaffenhofen-today.de entnehmen. InFranken meldet: »143 Autos in vier Jahren zerkratzt – 47jähriger Verdächtiger wurde festgenommen«, und schließlich versaut Rammstein-Ekel Lindemann Euch noch zusätzlich das Prestige. Der ist zwar lang nicht mehr in Eurem Alter, aber von dem Lustgreis ist in letzter Zeit dauernd im Zusammenhang mit Euch die Rede, weil er sich als 47jähriger in eine 15jährige »verliebt« haben will.

Und wenn man sich bei so viel Ärger einfach mal einen antrinkt, geht natürlich auch das schief: »Betrunkener 47-Jähriger landet in Augustdorf im Gegenverkehr«, spottet unbarmherzig lz.de.

Vielleicht, liebe 47jährige, bleibt Ihr besser zu Hause, bis Ihr 48 seid?

Rät die ewig junge Titanic

 Sakra, »Bild«!

Da hast Du ja wieder was aufgedeckt: »Schauspieler-Sohn zerstückelt Lover in 14 Teile. Die dunkle Seite des schönen Killers. Im Internet schrieb er Hasskommentare«. Der attraktive, stinknormal wirkende Stückel-Killer hat Hasskommentare im Netz geschrieben? So kann man sich in einem Menschen täuschen! Wir sind entsetzt. Dieses Monster!

Indes, wir kennen solche Geschichten zur Genüge: Ein Amokläufer entpuppt sich als Falschparker, eine Kidnapperin trennt ihren Müll nicht, die Giftmischerin hat immer beim Trinkgeld geknausert, und das über Leichen gehende Hetzblatt nimmt’s gelegentlich mit der Kohärenz beim Schlagzeilen-Zusammenstückeln nicht so genau.

Grüße von der hellen Seite des Journalismus Titanic

 Sind Sie sicher, Rufus Beck?

Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur zum 25. Jubiläum des Erscheinens des ersten deutschsprachigen »Harry-Potter«-Buchs kamen Sie ins Fantasieren: Würde Harry heutzutage und in der echten Welt leben, dann würde er sich als Klimaschützer engagieren. Er habe schließlich immer für eine gute Sache eingestanden.

Wir möchten Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass Harry Potter ein Zauberer ist, sich folglich gar nicht für den Klimaschutz engagieren müsste, sondern ihn mit einem Schnips obsolet machen könnte. Da allerdings in sieben endlos langen »Harry Potter«-Bänden auch keine Klassenunterschiede, Armut oder gar der Kapitalismus weggezaubert wurden, fragen wir uns, warum Harry gerade bei der Klimakrise eine Ausnahme machen sollte. Aber wo Sie schon so am Fabulieren sind, kommen wir doch mal zu der wirklich interessanten Frage: Wie, glauben Sie, würde sich Ihr Kämpfer für das Gute zu Trans-Rechten verhalten?

Hat da so eine Ahnung: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Backpainer-Urlaub

Eine Thailandreise ist die ideale Gelegenheit, sich bei unzähligen Thaimassagen endlich mal jene Rückenschmerzen rauskneten zu lassen, die man vom Tragen des Rucksacks hat, den man ohne die Thailandreise gar nicht gekauft hätte.

Cornelius W. M. Oettle

 Löffelchenverbot

Ich könnte niemals in einer Beziehung mit Uri Geller sein. Ich will mich einfach für niemanden verbiegen.

Viola Müter

 Brotlose Berufsbezeichnung

Ich arbeite seit Jahren erfolgreich als honorarfreischaffender Künstler.

Jürgen Miedl

 Kartoffelpuffer

Die obligatorische halbe Stunde, die deutsche Rentnerehepaare zu früh am Bahnhof erscheinen.

Fabio Kühnemuth

 Tagtraum im Supermarkt

Irre lange Schlange vor der Kirche. Einzelne Gläubige werden unruhig und stellen Forderungen. Pfarrer beruhigt den Schreihals vor mir: »Ja, wir machen gleich eine zweite Kirche auf!«

Uwe Becker

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
22.09.2023 Mainz, Frankfurter Hof Max Goldt
23.09.2023 Mönchengladbach, Theater im Gründungshaus Max Goldt
24.09.2023 Aschaffenburg, Hofgarten Thomas Gsella mit Hauck & Bauer
26.09.2023 Bern, Berner Generationenhaus Martin Sonneborn