Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (48)
Der hellerleuchtete Einkaufskiosk jedenfalls steckte still und recht einladend im Eck, und aus Gründen, die sich vorzurechnen Kurtchen keinen Anlaß sah, schnürte er nicht, wie gewöhnlich, daran vorbei, sondern trat, mit der müden, gleichwohl geläufigen Geste desjenigen, der auch die letzte Boje noch fehlerfrei umsegelt, ein.
Der schwarzhaarige Mann, der mit irgend etwas Lesbarem in seinem Verkaufsabteil saß und von dem nur der Kopf zu sehen war, blickte nur kurz auf, um Guten Abend zu sagen, und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Kurtchen fiel abermals auf, daß er keine Ahnung hatte, was er hier eigentlich wollte, daß er aber, da er nun einmal hier hineingeraten war, irgendwas draus machen mußte, weil einfach wieder gehen aus Gründen, die in seiner unausrottbaren Neigung zur Schamhaftigkeit zu finden waren, nicht in Frage kam; und mit einer Mischung aus Wohlgefallen und Mißtrauen registrierte er, daß sich die Symbolismen heute abend auf doch schon arg penetrante Art häuften.
Kurtchen nahm vor der Eistruhe Stellung und tat fürs erste so, als suche er ein passendes Eis, überlegte fahrig, ob er wohl noch in der Lage wäre, sich einen zu noggern, und blickte dann wie absichtslos zum Zeitschriftenregal, wo er auf dem Titel einer Zeitschrift für ewige Abiturienten die Zeile las:
"Jetzt sofort verlieben!"
Vielleicht, so dachte er weiter und sah, um seine allfällige Wirkung als entschlußloser Nichtkunde nicht weiter bekümmert, aus dem Fenster, am Ende doch in Ordnung, in einer Zeit zu leben, in der so gut wie nichts mehr irgendwelchen Sanktionen in puncto Mißachtung etwa noch vorhandener Zerebralstandards unterfiel. Ob sich Voltaire dafür noch prügeln würde, daß ein Service-Wichsblatt für den Deppennachwuchs die Freiheit zu solch abscheulichem Unsinn behielte? Gab es denn keine Polizei, die wenigstens die schlimmsten Geistesverbrechen ahndete? Das Schlimme war ja, daß es am Ende wirklich Neon-Leser gab, die sich an den Befehl hielten: und losmarschierten, um sich vom nächstbesten Zellklumpen in die Verliebtheit nageln zu lassen. So wie sie ja auch jeden Unsinn kauften, nur weil es in der Zeitung stand.
Jetzt sofort verlieben, genau, das war es, dachte Kurtchen, schon eher hilflos denn aufgebracht; das war die Freiheit, und sie bestand darin, sich das restlos ganze Leben von derlei stumpf berechnenden Idiotien zu Matsch und Klump krakeelen zu lassen.
Jetzt sofort verlieben. Hätte ich das bloß vorhin schon gewußt.
Kurtchen war sich nicht sicher, ob er jemals von einem derart fulminanten Rülpser aus seinen Gedanken gerissen worden war; falls nicht, passierte es jetzt zum ersten Mal. (wird fortgesetzt)