Gärtners kritisches Abschiedsfrühstück: Versuch über die Müdigkeit
Eigentlich war ein letzter Text längst fertig, vor Wochen schon vorbereitet als augenzwinkernder Abgang. Aber diese Kolumne, seit reichlich sieben (oder, je nach Rechnung, zehn) Jahren verfasst, kommt an ihrem letzten Sonntag dann doch wieder zu sich, denn für sie ist jeder Sonntag Zahltag, und einmal Augenzwinkern bedeutet, die Rechnung einmal nicht fällig zu stellen.
Müde sei er, twitterte der jüdische Hannoveraner Pianist Igor Levit, nachdem Anfang Oktober in Hamburg ein jüdischer Student angegriffen worden war. Er wisse, was jetzt komme: „Gestern: Hamburg. Heute: Phrasen. Nie-wieder-Hashtags. Wie immer. Einfach ermüdend. Ermattend.“ Im Feuilleton der Zeitung, die an dieser Stelle so oft als Morgenblatt firmiert hat, machte sich der Musikkritiker Mauró dann über Levit als engagierten Hansel lustig, der sein lausiges Legato durch autoritäre Twitterei kompensiere und genau wisse, welche Knöpfe er drücken müsse, um sich die Unterstützung des Berliner Moralmilieus, des „neuen Sofa-Richtertums“ zu sichern. Levits Twitterei, sein Engagement wider den Antisemitismus seien halb „lustiges Hobby“, halb Ausdruck einer „Opferanspruchsideologie“ und sowieso Teil eines „diffusen Weltgerichts“, und immerhin waren neun von zehn der (früher hätte man gesagt: waschkörbeweise) in der Münchner Redaktion eintreffenden Publikumsreaktionen der Ansicht, hier habe wer seinem antisemitischen Ressentiment die Zügel schießen lassen: Von der Lobby über die Weltherrschaft bis hin zum von Nazis so genannten „Schuldkult“ sei alles drin, und das stimmte ja auch. Die SZ entschuldigte sich, und Carolin Emcke bekam eine halbe Seite Feuilleton für die solidarische Feststellung, auch sie sei müde: „Rassismus und Antisemitismus werden nicht nur gefühlig empfunden, sie sind strukturelle Diskriminierungen und reale Gefahren … Die Auseinandersetzung mit Auschwitz ist nicht ein einzelner Akt oder ein sich wiederholendes Ritual, sondern eine unabgeschlossene Aufgabe, für uns individuell, aber auch als demokratische Gemeinschaft.“
Was eine gefühlige Empfindsamkeit sei oder ein Ritual, das sich wiederholt, weiß Kollegin Emcke allein, und da würde ich ja nun sagen, dass derlei wiederum mich müde macht, die Auseinandersetzung mit Auschwitz und die Aufgabe, diskriminierende Strukturen aufzubrechen; wo das Unglück schon da beginnt, wo überhaupt jemand als Jude, als Jüdin firmieren muss und nicht einfach als Deutscher oder Französin, als guter Mensch oder Arschloch, als Mann mit Geld oder Frau ohne, als dick, doof oder Typ zum Pferdestehlen. „Typisch Katholik“ oder „typisch Evangele“, das denkt man nicht, aber was typisch jüdisch sei, das wissen alle ganz genau, und so typisch ist es, dass es alle andere Typik überragt. Levit, ein jüdischer Deutscher, so wie ich ein protestantischer Deutscher bin (ohne noch in der Kirche zu sein, aber ist es Levit?); aber für ihn gilt allemal nicht „typisch deutsch“, sondern „typisch jüdisch“ (denn er hat ja seinen Staat anderswo, nicht wahr!), und freilich würde der Musikkritiker Mauró es genauso weit von sich weisen, ein Antisemit zu sein, wie vor Jahren der Karikaturist Mohr: Es ist der kollektive Unterstrom, der beide trägt, und der Strom ist da, auch wenn die Meinung zum Fall Levit/Mauró einmal erfreulich deutlich gewesen ist.
„Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muss, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert.“ Theodor W. Adorno, 1969
Es gibt ein Kinderbuch, in dem es heißt, man müsse den kleinen Kaninchen alles mindestens tausendmal erklären, bis sie es endlich verstehen, und die 376- oder, je nach Rechnung, 513mal, die es diese Kolumne versucht hat, sind da schon rein rechnerisch zuwenig. Dass mit dem heutigen Sonntag Schluss ist, hat aber nichts mit Resignation oder Müdigkeit zu tun, mindestens nichts mit der eigenen, denn eine Kolumne ist ein Ritual, das sich wiederholt, idealerweise eines, das die ermüdende, ermattende, aus Phrasen gefügte Wirklichkeit in ein Gegenteil übersetzt. Jene ist potentiell so unendlich wie diese, und dass es jetzt, weil auch Frühstückskarten up to date bleiben wollen, endet, ist nicht sowohl Kapitulation als die durchs abermals Dialektische schimmernde Mitteilung, dass es auf den Versuch immerhin angekommen ist.