Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (90)
Der Nachmittag zockelte weiter, bald lustig und lärmend, bald still und fast erschöpft; der Himmel blaute fahl, Winde strichen und legten sich, und wie die Figur eines Glockenspiels kam der Kellner und ging und kam und ging; noch einmal roch's nach Pflasterstein, nach Bier und Holz und alter Farbe, und die Konturen wurden breit, und die Flächen glitten ineinander, und in den Pausen, nach einem Gelächter, einem Mißverständnis oder der Pointe eines ahnungssatten Vortrags (Heiner: "Der Kommunismus war doch irgendwie, war doch echt jetzt mal nur was für die herrschenden Kreise") spürte Kurtchen dieses eigentümliche Mit- und Ineinander von Gelöstheit und Wehmut, weil alles verschwamm und die Verschwommenheit das Vergehen schon abbildete, in Echtzeit, und es war fast egal, wie es weiterging, denn es ging weiter, immer weiter, und das war schön und schauerlich. Petra saß und trank beherzt, die Augen groß und voller Gier, auf diesen Quatsch und dann den nächsten; sie war wie Maos Fisch im Wasser, und Kurtchen kam sich vor wie ein betrunkener Angler, der die Angel bloß noch braucht, um sich an ihr festzuhalten. Es war nicht von der Hand zu weisen, daß alles ihm bekannt vorkam, und auch Freds Erzählung, wie er als junger Mensch durch die USA getrampt war und dabei tatsächlich einmal Teller gewaschen hatte (Gernolf: "Keller gewaschen! Also, gefegt jetzt, oder was?" Heiner: "Gekärchert!"), stellte, so schön und gut erzählt sie war, genau das vage deprimierende Nachspiel vor, das eine stringente, seriöse Geschichte ausnahmslos vorstellen mußte, wenn sie im Spätoktober des Kneipenabendjahrs, nach Rausch und Krach und Atemnot erzählt wurde. Als ginge man nach dem Rummelplatz ins Theater.
"Und? Warst du schon im Urlaub? Oder fährst du noch?" fragte Petra Kurtchen, während Fred und Heiner Tramperlebnisse austauschten und Gernolf, von dem Kurtchen wußte, daß er nie getrampt war, aufmerksam und, wie Kurtchen vorkam, ein bißchen melancholisch zuhörte. Sie hatte die Stimme etwas gedämpft, was der Frage etwas Intimes verlieh; und Kurtchen horchte in sich hinein, ob deswegen irgend etwas rauschte oder wenigstens rumpelte; aber es blieb ruhig. Was immer das nun wieder zu bedeuten hatte.
"Vielleicht trampe ich einfach", sagte er, und obwohl nichts rauschte noch rumpelte, kam ihm dieser Dreh ins plänkelnd Lautproduzierende unangemessen vor, zumal der Abend über diesen Punkt auch längst hinaus war.
"Und wohin?" Kurtchen entging nicht, daß Petra die Frage so betonte, als bereue sie, gefragt zu haben; sie hatte etwas angeboten, er hatte es ausgeschlagen. Es tat ihm leid.
"Offenbach. Weiter würde ich mich gar nicht trauen." Er lächelte, gerade so offen, daß es nicht nach Taktik aussah.
"Keine Tramperfahrung?" fragte Petra wieder freundlich, und Kurtchen war erleichtert. (wird fortgesetzt)
◀ | Maßnahmen-Katalog gegen sexuellen Mißbrauch | Wie funktioniert "mitfühlender Liberalismus"? | ▶ |
Newstickereintrag versenden…