Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Von Vorteil
Wer Kinder hat, weiß, dass das einzige, was noch schlechter ist als zuwenig Schlaf, unterbrochener Schlaf ist. Sechs Stunden am Stück, meinetwegen, aber wenn wegen irgendwelcher Verdauungsinfekte die Stunden zwischen drei und fünf fehlen, ist es geradezu unverantwortlich, nächsten Tags eine Kolumne zu verfassen. Von Stadtbus fahren oder Herzen transplantieren mal zu schweigen.
Trotzdem wird’s, darf man annehmen, gemacht, weil man muss, während andere Sachen auch ausgeschlafen gemacht werden, weil man’s kann, und ob das eine unverantwortlicher ist als das andere, ist eine unausgeschlafene Frage wert. In China hat ein Wissenschaftler erstmals Menschen genetisch verändert, ein Zwillingspärchen, das, sein Vater ist HIV-positiv, nun HIV-immun sein soll, und das ist, finden die meisten, unverantwortlich und ein Eingriff in die Evolution. Ein paar Tage früher hat die deutsche sog. Staatsministerin für Evolution, halt: Digitalisierung (normalerweise mach’ ich derlei, weil ich’s für lustig halte, diesmal war’s ecriture automatique), nachdem ihre Kollegin vom Forschungsressort ein sog. 5G-Handynetz für im ländlichen Raum nicht vordringlich gehalten hatte, mitgeteilt, im Gegenteil müsse „jede Ackerfurche vernetzt“ werden. Nun weiß man aber, dass es die höchsttechnisierte Landwirtschaft ist, der kein Unkraut und kein Strauch mehr auskommt, die also satellitengestützt jene Nischen ausräumt, die Insekten und Vögel lebensnotwendig benötigen. Sterben die aus, ist das was? Vielleicht ein Eingriff in die Evolution?
Wer nicht gerade Anti-Speziezistin ist, wird trotzdem finden, dass es beim Menschen nun aber aufhöre mit dem Eingreifen, und das Morgenblatt berichtet, außer dem chinesischen Doktor hätten nun alle entsetzliche Bauchschmerzen und sähen im Traum gar Adolf Hitler. Nun hat man diese Genschere aber doch entwickelt, und natürlich will dann irgendwann einer der erste sein, der sie am Objekt ausprobiert. Alle rufen sie jetzt nach Regeln und Vorschriften mit auch internationaler Gültigkeit, aber die wird es sowenig geben wie eine Welt ohne Steueroasen. In dieser Welt gilt nämlich das Vorteilsprinzip, und ob man seinen Vorteil jetzt bloß nutzen kann oder aber nutzen muss, ist unserer Eingangsfrage eng verwandt.
„Rationalität / klar übern Markt gesteuert / Produzenten und Produkte / die Gewinne weisen aus / was läuft und was verschwinden muss / einfach ist das / deutlich / jeder muss das einsehn“ Degenhardt, 1977
Nichts jedenfalls liegt dem umfänglich waltenden Gesellschaftsprinzip querer als die Idee der Selbstbeschränkung oder Selbstverpflichtung, und kein Gesetz der Welt wird verhindern, dass sich die, die sich’s leisten können, irgendwann und irgendwo gegen bar diese oder jene Veranlagung herausschneiden oder eine andere implantieren lassen, und weil die, die das Schneiden beherrschen, das wissen, werden sie ihr Handwerk zur Anwendbarkeit hin entwickeln. (Das muss nicht mal aus Geldgier sein, wissenschaftliche Neugier reicht.) Es gibt eine Nachfrage, also wird es ein Angebot geben, und das Angebot wird die Nachfrage stimulieren.
Der Einwand sei nicht mit genereller Technikfeindschaft verwechselt. Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen kann sich ebenso entschließen, dass es Mukoviszidose, Krebs oder Parkinson sowenig mehr zu geben bräuchte wie die Pocken, die ausgerottet zu haben ja ebenfalls ein Eingriff in die Evolution ist. Aber vielleicht müsste da, wo das Vorteilsprinzip außer Kraft gesetzt wäre, niemand mehr Angst vor Designerbabys oder Übermenschen haben, denn die Angst davor ist ja bloß die Angst, noch einmal und immer wieder kürzer zu kommen.