Müters Söhne #5
Mentale Gesundheit
"Mama, bin ich rechts genug?"
Henry ist 12 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 16 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Manchmal staune ich über die Dinge, die Henry beschäftigen. Neulich fragte er mich etwa, ob ich finde, er sei rechts genug. Bisher kannte ich von Henry keine Selbstzweifel. Das wunderte mich. Er wirkt sonst sehr selbstbewusst. Ganz besonders dann, wenn er darüber referiert, dass die Erde eine Scheibe ist. Oder die Grünen schuld daran sind, dass er in Französisch nur Fünfen schreibt. Ich bat Henry, mir etwas Bedenkzeit zu geben, um angemessen auf seine Frage reagieren zu können.
Henry will von seinen Freunden gemocht werden. Das ist sehr menschlich. "Die kennen einfach die Wahrheit", schwärmt er. "Ich wusste nicht mal, dass Angela Merkel Michael Jackson getötet hat – mit einer Überdosis AstraZeneca." Das hatte ich auch nicht gewusst, aber die Blöße wollte ich mir nicht geben. Henry kennt die besagten Freunde noch nicht lange. Sie sind etwas älter als er und recht ideologisch. Ich stelle mir vor, dass sie auf dem Schulhof Fake News austauschen, wie meine Freundinnen und ich in den 90ern die ersten Diddl-Blätter.
Ich wollte Henry unbedingt einen guten Ratschlag geben. Das erwarten Söhne von ihrer Mutter. Die erste Möglichkeit: Ich rate Henry, seinen Freunden zu beweisen, dass er rechts genug ist. Ich halte ihn nämlich für ziemlich rechts. Immerhin hat er kürzlich ein Foto von Martin Sellner mit zu seinem Friseurtermin genommen. Ich war erleichtert. Besser als ein Foto von Guido Cantz. Zweifelsohne möchte ich nicht, dass sich Henry radikalisiert. Trotzdem tendierte ich zur zweiten Möglichkeit.
Ich begriff nämlich nach einer Begegnung mit seinen Freunden, dass Henry es ihnen niemals recht machen können wird. Als er kürzlich mit ihnen im Wohnzimmer chillte, wurde ich scheu und merkte, dass ich in die gleiche Falle tappte wie Henry: Ich wollte von ihnen gemocht werden. Ich rief ihnen kumpelhaft "Hey, ihr bösen Jungs, alles chrupalla?" zu. Sie reagierten nicht. Sie reagierten auch nicht, als ich mich demonstrativ streckte und ihnen damit einen kurzen Blick auf mein extra aufgeklebtes Andreas-Gabalier-Arschgeweih gewährte. Wenn sie nicht einmal mich akzeptierten, hatte Henry keine Chance.
Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit. Weil mir die mentale Gesundheit meines Sohnes wichtiger ist als seine politische Einstellung. "Henry, du musst niemandem etwas beweisen", rate ich ihm, als ich ohne zu klopfen seine Zimmertür öffne. Er schließt hektisch ein paar Tabs. "Es ist wichtig, dass du weißt, dass du rechts genug bist. Dass du genug bist. Egal, was die anderen sagen." Ich möchte Henry vor Menschen zu schützen, die seinen Selbstwert bedrohen. Auf die Frage "Mama, bin ich rechts genug?" antworte ich seitdem "Natürlich, mein Schatz".
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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