Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (69)
"Das Interessante ist jedenfalls", Gernolf beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne, "wie gut mir das gefallen hat. Es gibt hundert gute Gründe, dieses Geheimnislose und Aufgeräumte, diese adrett symbolischen, poliert bildungsbürgerlichen Arrangements für langweilig und unerheblich, vielleicht sogar für, ich sagte es, spießig zu halten. Aber, und das ist es, was mich so beeindruckt: Es ist so gut gemacht. Es funktioniert, und zwar nicht einmal auf zynische Weise. Ich ertappe mich selbst dabei, wie mir das allein deshalb Freude macht, weil es mir bestätigt, daß ich Abitur habe."
"Johannes B. Kerner hat auch Abitur. Veronica Ferres."
"Du weißt doch, wie ich das meine. Vielleicht muß man da wieder hin. So was macht ja heute keiner mehr."
"Abitur?" Kurtchen verzog so absichtsvoll keine Miene, daß es wie eine Grimasse wirken mußte.
"Depp. Solch saubere Selbstverständigungsprosa über die großen Fragen, also, die wirklich großen, nicht solche, wie es kommt, daß in Berliner Cafés alle mit dem Laptop sitzen und trotzdem pleite sind oder was weiß ich."
"Siegfried Lenz", wandte Kurtchen ein und sah den Schweizern beim Einpacken zu.
"Ja, aber der ist doch uralt."
"Und du willst ihn beerben."
"Warum denn nicht? Wenn man annimmt, daß er in gewissem Sinne Thomas Mann beerbt hat? Ein bißchen einfältiger vielleicht, dafür ohne diese ewige Ironie."
Die Schweizer gingen, der Vater hatte den Sohnemann an der Hand, die Mutter das Töchterchen, und Kurtchen war jetzt doch sehr froh, keine zwölf mehr zu sein. Denn da ging sie hin.
Kurtchen nahm die Speisekarte und vertiefte sich. Gernolf schwieg, und Kurtchen, der ja doch wissen wollte, worin der Entschluß des Freundes bestand, klappte, nachdem er ein als norwegisch klassifiziertes, nämlich fischhaltiges Frühstück gewählt hatte, die Karte wieder zu und gab sie Gernolf.
"Also das soll es jetzt sein: Gernolf Rademann, der Siegfried Lenz für eine neue Generation." Kurtchen ließ mit Absicht das Fragezeichen weg.
"Du nimmst mich nicht ernst. Es geht um die Methode. Es geht darum, nicht mehr krampfhaft zu versuchen, das Rad neu zu erfinden. Was wollen die Leute? Sie wollen Geschichten über Liebe, Tod, Teufel."
"DDR", half Kurtchen.
"Von mir aus. So. Und wenn mein Ehrgeiz ab sofort wäre, ihnen solche Geschichten zu schreiben? Und zwar ohne diesen ewigen Fokus aufs Selbsttherapeutische, diesen Sublimierungskäse. Einfach hineingegriffen ins pralle Menschenleben, Zeitung aufschlagen, aha, Vater erschießt Tochter, Schwein tötet Mann. Die unerhörte Begebenheit. Novellen. Geht auch schneller als ein Roman."
Kurtchen beobachte zwei Spatzen, die zwischen den Stühlen umherhüpften und nach Krumen pickten, und merkte, wie ihm der Hintern juckte, aber er unterließ es, Gernolf das als Stoff anzudienen, dazu war die Tatsache, daß er, Kurtchen, das billige Feuchtpapier nicht vertrug, wohl auch nicht in ausreichendem Maße unerhört. (wird fortgesetzt)
◀ | Zum Heiligen Abend: Die schönsten Weihnachstitel aus 2000 Jahren | Basteln mit Bier (Weihnachtsausgabe) | ▶ |
Newstickereintrag versenden…