Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (55)
Trotzdem war es keine Art, einfach aufzulegen, denn damit war ja nun gar nichts anzufangen. Spekulationen und ungelöste Rätsel gut und schön, aber das war was für die philosophische Freizeit und nicht für den harten Alltag, dafür mußte man fit und ausgeschlafen sein, und Kurtchen war weder das eine noch das andere. In Amerika konnte man, soweit er wußte, auch unbekannte Anrufer per Tastendruck einfach zurückrufen. Aber die Telefonleitungen überirdisch verlegen! dachte Kurtchen sinnlos und rückte durch den Eingriff der Pyjamahose das Skrotum sich zurecht; und saß und lauschte bleiern. Im Hause war es still, vorm Fenster fuhr Verkehr.
Er sah auf die Uhr des Mobiltelefons. Es beruhigte ihn zu wissen, daß man für die allermeisten Entscheidungen Zeit hatte, mehr oder weniger viel, aber immerhin, und deshalb sah er, wann immer es etwas zu entscheiden gab, auf die Uhr und bestimmte für sich den Zeitpunkt, bis zu dem er, Kurtchen, Zeit haben würde, sich zu entscheiden. Die Textnachricht von P. war sieben Minuten alt, aber da es noch früh am Tag war, konnte Petra (sie mußte es sein, wer sollte es sonst sein, Wladimir Putin war es sicher nicht, obwohl es seine Deutschkenntnisse ihm erlaubt hätten) nicht erwarten, daß er seinen wohlverdienten Nacht- und überdies Wochenendschlaf für die Beantwortung von Textanfragen, deren Bedeutung bis zur Lektüre ja im Unbekannten blieben, unterbräche, bis Mittag, so nahm er an, hätte er jedenfalls Zeit, sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen zu lassen.
Wobei zu klären gewesen wäre, welche.
Kurtchen seufzte schwer unter der Last dieses immer unübersichtlicher werdenden Morgens. Er war ein Mann, der nicht wußte, was er wollte, und als solcher, glaubte man den Kontaktanzeigen, die Kurtchen auf in fremden Toiletten ausliegenden Stadtmagazinen fand, praktisch unvermittelbar; dabei hätte es, fand Kurtchen, fürs erste bleiben können. Alleinsein hatte den kaum zu überschätzenden Vorteil, daß man jederzeit die Übersicht behalten konnte, weil es die Zahl der möglichen Verwirrungen zwischen Aufstehen und Hinlegen klein hielt. War man allein, gab's nicht viel zu klären: Ist noch Butter im Haus? Geh ich mit oder ohne Jacke vor die Tür? Ist Amy Winehouse nun eigentlich Kaufhausmusik oder nicht? Trat ein möglicher Lebenspartner hinzu, vervielfachte sich die Zahl der Situationen, in denen entschieden werden mußte: Kino oder Kneipe? Zu mir oder zu dir? Machen wir einen Ausflug?
Beim Scheißen wurde Kurtchen ruhiger. (wird fortgesetzt)
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