Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (49)
In einer Mischung aus Erleichterung, daß er nicht mehr alleine im Laden herumstand und die Aufmerksamkeit (wenn es denn eine gab) nicht mehr solo auf sich zog, und Scham, weil er nun, wenn er seinen Ohren trauen konnte und der Ladenbesitzer nicht feiner unterschied, als es ihm zuzumuten war, in die Gruppe jener Spätheimkehrer gehörte, die ihren losen Lebenswandel durch offensives Lärmschlagen und Schlechtbenehmen feierten, drehte Kurtchen sich um und sah ein junges Pärchen, das mit jeweils einer Getränkedose in der Hand zwischen Kühlschrank und Kasse stand und so aussah, als sei es sich nicht sicher, in welchem Umfang es sich noch weiter alkoholisieren solle.
"Komm ey", machte der Junge, der irgendwas zwischen 20 und 30 war, derlei ließ sich ja heute nicht mehr ohne weiteres feststellen. Er war mittelgroß und trug keine Turnschuhe, dafür eine überlebte Mittelscheitelfrisur, wie sie selbst unter Fußballspielern nicht mehr üblich war, so daß Kurtchen entschied, daß es sich wohl um keinen Studenten handeln könne, trotz des struppigen, ja auch schon wieder vorgestrigen Ziegenbarts. Das Mädchen war gleich alt, ihre schulterlangen schwarzen Haare waren gepflegt, ihre Wangenknochen aber so hoch, daß für ihre Augen fast kein Platz mehr blieb, was ihrem bleichen Gesicht etwas Östliches gab. Slawin schien sie nicht zu sein, dafür sah der Rest von ihr, der unauffällig in Jeans und Sportjacke steckte, zu hiesig aus.
„Was, komm ey“, äffte sie, erwartbar akzentfrei, und rülpste dann laut und trocken, so laut, daß es kein Versehen sein konnte, sondern als genuine Ausdrucksform betrachtet werden mußte.
Kurtchen mußte sich zwingen wegzusehen und drehte sich mitsamt seiner Überraschtheit zurück zum Zeitschriftenregal. Er nahm eine Konkret, fing pro forma an zu blättern und überlegte, ob das Fräulein seine Ungezogenheiten als emanzipativen Akt verstand oder einfach schlecht erzogen war.
"Agröööööööööööööh", Kurtchen schrak richtiggehend zusammen und wagte jetzt doch eine halbe Drehung, um mit dem linken Auge das jetzt schon zweite irre Duo des Abends in den Blick zu nehmen, mit dem rechten aber den Schwarzhaarigen, der interessiert von seiner Lektüre hochsah; wenn er das Treiben mißbilligte, sah man es ihm nicht an. Der Junge schien die Rülpserei seiner Kameradin gewohnt zu sein, er sah weder betreten noch anerkennend drein.
"Eine Dose ist doch scheiße", sagte das Mädchen und fügte wie zur Bestätigung ein staubendes "Raaaaaaaaaaaoooooock" hinzu; vielleicht kamen sie aus der Oper und hatte über Stunden nur in den Pausen rülpsen dürfen; vielleicht war dies aber auch ein Trend, er, Kurtchen, bekam von dem allen ja die Hälfte bloß noch mit.
"Nee, ich mag nicht mehr", sagte der Junge und machte eine Bewegung in Richtung Kasse.
Das Mädchen sagte nichts; für Sekunden schien die Zeit eingefroren, schien der Einkaufskiosk samt Inventar so hyperreal und schmerzhaft deutlich ausgeleuchtet wie in einer Fotografie von Crewdson; Kurtchen vergaß seine Konkret, der Kapitalismus war ohnehin am Ende.
"ooooooooooooooooouuuuuuuuuuuuuuuAAAAAAAAAAAAARGH", machte das Mädchen schließlich, und Kurtchen merkte, daß er auf ein Echo wartete.
Der Schwarze erhob sich nun doch von seinem Platz, in den Händen eine Neue Presse:
"He! Nich so rülpsen hier, bitte!" sagte er. "Is kein Klo, oder!" (wird fortgesetzt)
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