Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (39)
Kurtchen winkte noch dem Wirt, der aber bloß unangelegentlich zurücksah und so in seine gastropolitischen Visionen verstrickt schien, daß er den Auszug seiner beiden vorletzten Gäste nicht weiter kommentierte. Kurtchen wußte immer noch nicht, ob beim Verlassen eines Lokals nun der Mann oder die Frau die Anführerschaft übernehmen müßte, es gab durchaus Gründe für beides – der Mann geht vor, um das fremde und also erst einmal feindliche Terrain zu sondieren, die Frau geht vor, weil der Dame der Vortritt gebührt –, aber weil sich Petra, die nicht so aussah, als harre sie auf Beifahrersitzen aus, um sich die Wagentür öffnen zu lassen, längst ins Freie begeben hatte, vergaß Kurtchen die Frage und verharrte noch zwei Augenblicke an der Tür, um, weil das Glück stets zu dem kommt, der warten kann, vielleicht noch einmal das Wörtchen "Mittagstisch" durch den Raum segeln zu hören; aber nichts dergleichen geschah. Henner rauchte, quallte und wandte den Blick nicht von seinem Gesprächspartner, und der Kartentischler nickte so regelmäßig, daß es weniger bestätigend noch überhaupt gesprächsbegleitend wirkte als vielmehr vegetativ, geradezu hospitalistisch, vielleicht auch einfach schwer betrunken. Und also folgte Kurtchen Petra.
Die stand vor der Extra Bar und hatte, die Hände in den Hosentaschen, den schmalen Kopf in den noch schmaleren Nacken gelegt, als suche sie ein Sternbild; am Himmel war aber keines zu sehen, wegen Lichtsmog, Bewölkung oder ähnlich Unauslotbarem; und kaum hatte Kurtchen den Gedanken entwickelt, es handele sich hierbei um eine Verlegenheitsgeste, weil der Abend an einem Punkt war, wo er eine Entscheidung zwar nicht erzwang, aber doch in den Raum stellte, in den Raum zwischen ihm, Kurtchen, und Petra, nahm Petra den Kopf zurück und tat etwas sehr Plausibles: Sie hob die Schultern. Und ließ sie wieder fallen.
Kurtchen hatte Jahre gebraucht, um den Unterschied zwischen Symbol und Allegorie zu begreifen, und jetzt stand er da und wußte es wieder nicht. Er wußte gerade überhaupt nicht viel, was nichts machte, weil ihm das meiste egal war. Es war ihm gelungen, sich an die Grenze heranzutrinken, hinter welcher die Wirrnis so groß wird, daß sie wiederum nötigt und alle alkoholbedingte Freiheit ins Gegenteil verkehrt, und war so klug gewesen, sich bei Henner kein Visum zum Grenzübertritt zu verschaffen: Profiarbeit, zu der freilich das nötige Glück gehört. Und so stand Kurtchen in warmer Nacht und überließ sich einem sanften Schaukeln und wunderte sich, als Petra ihn jetzt ansah, dann doch, wie es immer wieder sein konnte, daß kein Rausch der Welt unterhalb eines Systemabsturzes das Peinliche, Verlegenmachende solcher Momente auffing. Er bekam ein bißchen Angst, aber diese Angst war schön, weil sie aufregend war und Kurtchen keine siebzehn mehr, beweisen mußte er nichts, sich nicht und auch sonst niemandem. (wird fortgesetzt)
◀ | Selbst ist der Zuckerberg | Werbeunterbrechung | ▶ |
Newstickereintrag versenden…