Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Übern Graben
Während Donald Trump (USA) die Gräben in seinem Land immer tiefer und so tief gräbt, dass Straßenzüge brennen, sind deutsche Auseinandersetzungen eher von der Art, dass Bewohner eines Göttinger Brennpunkthochhauses Fernsehteams mit Eiern bewerfen, vom Balkon aus. Aber auch das reicht, um ins „Heute-Journal“ zu kommen.
Oder jedenfalls fast. Anlass des Berichts war ein neues lokales Aufflammen der Corona-Seuche, nachdem zwei Großfamilien nicht abstandsregelfest das Ende des Ramadans gefeiert hatten; gleich gab es hundert frische Ansteckungen, Schulen und Sportvereine schlossen wieder, die Ministerin ordnete Zwangstests an, und auf der Straße wunderten sich sichtlich Einheimische, dass sich Leute einfach nicht an die Regeln halten. Wo wir uns solche Mühe geben!
Nun ließ sich der Fall kaum anders erfassen, als auf den Hintergrund der Familien hinzuweisen, denn ohne die feiernde Großfamilie ergibt die Geschichte sowenig Sinn, dass man auch gleich Ramadan sagen kann; wobei man sich zu oft über die Unterweltherrschaft von Ausländerclans ausgelassen hat, dass „Großfamilie“ nicht bereits nach organisierter Kriminalität klingen müsste. Und also halten sich in einem sozialen Brennpunkt integrationsferne Ausländer nicht an die Regeln, legen Göttingen lahm, und Herr und Frau Normalbenzin schütteln die Köpfe – so geht die Geschichte im Fernsehen, aber ist sie das? Oder schreiben auch diese Geschichte die Sieger, nämlich die, die abseits der Brennpunkte ihr kulturelles Kapital hüten?
Der Kulturalist geht ja her und sagt: Die sind halt anders, mehr so gesellig. Die Rassistin sagt: Kanaken, da machst du nix. Der Materialist sagt: Wer in einem sozialen Brennpunkt lebt und aufgewachsen ist, für den gehören Vokabeln wie „Reproduktionszahl“ nicht unbedingt zum Stammwortschatz; der wird auf behördliche Verfügungen, die für ihn zur Hälfte unverständlich und zur anderen Schikane sind, anders reagieren als die Leute aus den Reihenhäusern. Dass aus dem Wohnblock Eier aufs Fernsehen flogen, ist da so konsequent, wie es Reflexe immer sind: Das, wissen die, die da werfen, ist nicht unser Fernsehen. Und da soll sich auch niemand beschweren, dass die im Brennpunkthaus ihr eigenes Fernsehen schauen, Fernsehen, das auch bloß wieder andern nützt.
„Zwei Straßenzüge können voneinander entfernter als Nord- und Südpol sein.“ Ernst Jünger, 1932
Bildung, um dieses korrumpierteste aller Wörter einmal aus unverächtlichen Gründen aufzurufen, muss unten hin, denn oben ist sie eh, und selbst die dumme Bertelsmann-Stiftung hat vor Jahren nicht vorm vermeintlichen Light-Abitur gewarnt, sondern vor der Bildungsferne der immer Gleichen, jener, deren Konkurrenz dasselbe Bürgertum fürchtet, dessen Fernsehen zwar vom Brennpunkt spricht, aber nie fragt, warum man da nicht selber wohnt. Dann wird aus einer Geschichte über Armut, Unwissen und Unheil wie von selbst eine, die das, was sie beleuchten müsste, verdunkelt, und die Nachricht, mit Kraus, hat sich selbst zum Inhalt.
Kein Präsident gräbt diesen Graben; den graben sie alle. Er ist gewissermaßen selbstgrabend, und wär’s metaphorisch nicht so heikel, müsste man sagen, er ist „im System verankert“, wie der Klaus Brinkbäumer in der „Zeit“ schreibt, der natürlich den Rassismus in den USA meint: „Das hört nicht auf, wie auch? Es bräuchte erstens ein Ende des alltäglichen Rassismus und ein Ende der Ungleichheit, zweitens eine Aufarbeitung der Vergangenheit, drittens eine versöhnende und gerechte Politik für die Zukunft. Wenig bis nichts davon gibt es“, ganz anders als in Deutschland, wo man die Vergangenheit so gut aufgearbeitet hat, dass es für alle reicht. Nämlich für die mit dem „Zeit“-Abo.
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