Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Mutti
„Spannender, aufregender, spektakulärer geht es kaum. Dieser Wahlabend ist eine Zäsur“ – es ist tatsächlich wunderbar, wie rauschhaft „Spiegel online“ an seiner Selbstkarikatur als Dünnstbrettbohrer der Postdemokratie arbeitet oder, wenn man's ein bißchen prosaischer ausdrücken will, lügt, wenn es darum geht, aus einem Nicht-Ereignis eine Sensation zu zimmern.
Es ging bei dieser spannenden, aufregenden, spektakulären Wahl ja nicht darum, daß die KPD um ein Haar die absolute Mehrheit verfehlt hätte, ja nicht einmal um Steinbrück als Bundeskanzler – daran wird er selber nicht geglaubt haben –, sondern bloß um die Frage, mit wem A. Merkel, die als Wahlgewinnerin, allem „Spon“-Getrommel zum Trotz, längst feststand, die nächsten Jahre wie gehabt weiterregiert; und ob das nun ohne eine windelweiche FDP geschieht oder mit einer windelweichen SPD, ist, selbst wenn wir einmal annähmen, man hätte tatsächlich die Wahl gehabt, eine spektakulär unspannende Angelegenheit.
Und das soll ja auch so sein.
Es ist ja nicht zufällig viel von Adenauer die Rede, wenn von Merkel die Rede ist, die ihre Abschlußkundgebungen mit dem Slogan „Keine Experimente“ schmückte, so wie „Postdemokratie“ ja nicht bloß heißt, daß der Souverän ganz offiziell nichts mehr zu melden hat, sondern darüber hinaus, daß er das auch gar nicht mehr will. Junge Leute, lesen wir, leben immer lieber immer länger zu Hause, weil die Eltern eher Kumpel als Autoritäten sind; und die liebe Autorität ist ja bekanntlich die deutsche Kernsehnsucht. (Man lese bitte die Elogen auf den verstorbenen, am Donnerstag zu seinem 100. Geburtstag betrauerten Krupp-Patriarchen und mustergültig rheinischen Kapitalisten Berthold Beitz, der, als Judenretter und „Gerechter unter den Völkern“, gewiß kein schlechter Mensch war, aber eben einer, dem die Fabrik gehört und dem man es bereits fabrikschornsteinhoch anrechnet, daß er seine Werktätigen nicht geohrfeigt hat.)
„Es war Illusion, liebe Freundin, alles Illusion, außer daß ich vorhin am Fenster stand und nichts tat, und daß ich jetzt hier sitze und etwas tue, was auch nur wenig mehr oder wohl gar noch etwas weniger als nichts tun ist.“ Schlegel, 1799
„Niemand kann ganz genau sagen, wofür sie steht, aber viele Bürger fühlen sich bei Kanzlerin Merkel offenkundig in guten Händen. Es zeigt sich wieder einmal: Wenn politische Fragen kompliziert werden, ist Vertrauen eine wichtige Währung in der Politik“ – von „Spon“- auf Normalniveau gehoben heißt das: Wenn der Souverän sich auch minder komplizierten politischen Fragen: Soll man Arbeitslose schurigeln? Sind Witzlöhne in Ordnung? Will ich bis 75 arbeiten? – nicht mehr aussetzen will, dann vertraut er lieber darauf, daß das schon alles seinen Gang geht, und wählt die Kandidatin mit den nulligsten Slogans, aber den mit Abstand gemütlichsten Fotos. Und eben nicht eine Partei, die vor grau fotografierten Normalverbrauchern Mindestlöhne fordert und damit (wie verlogen auch immer) auf eine Realität weist, die außerhalb von Landlust, RTL und Qualitätspreßparolen („Deutschland geht es gut“) bitte nicht mehr stattfinde. Denn wenn Mutti morgens den dampfenden Kaba auf den gebeizten Echtholztisch stellt, will ich doch nicht im Ernst über Mietwucher oder verarmte Portugiesen nachdenken.
Gegen den Kantersieg der Christlich Demokratischen Union Deutschlands ist also überhaupt nichts zu sagen; nur werde beim nächsten Mal bitte der kollektive Freudentanz zu Musik der Toten Hosen unterlassen. Auf ein derart schlagendes Sittenbild der Berliner Republik können empfindliche Naturen wie unsereiner nämlich gut verzichten.
◀ | Werbeunterbrechung | GTA V im Test | ▶ |
Newstickereintrag versenden…