Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Kraft durch Freude
In London haben sie einen 21jährigen Praktikanten tot in seinem Zimmer gefunden. Der Praktikant war ehrgeiziger Student an einer dieser idiotisch benamsten privaten Wirtschaftsuniversitäten und soll, nach ersten Berichten, während seines Praktikums in der Londoner Dependance einer US-Großbank wochenlang nur stundenweise geschlafen haben. Jetzt ist er tot, und daß am selben Tag in der Zeitung stand (und zwar im Vermischten), die Leute in den Büros und den Fabriken würden immer kränker, söffen immer mehr, seien psychisch immer labiler und in wachsendem Maße depressiv, war natürlich ein Zufall, aber ein sozusagen Hegelscher. „Weil sie im Job immer flexibler sein müssen, immer mobiler und der Druck wächst, werden die Menschen auch häufiger krank“, weiß meine Morgenzeitung über einem doppelseitigen Spezial. „Der deutschen Wirtschaft gehen dadurch jedes Jahr viele Milliarden Euro verloren“, was natürlich mindestens so „alarmierend“ (ebd.) ist wie Millionen kaputte Malocher, die neuerdings zu Pausengymnastik, „Anti-Streß-Kursen“ und ähnlich richtigem Leben im falschen verdonnert werden. „Treppensteigen unter Anleitung, Ballspielen im Büro, zehn bis 15 Minuten. Diese ,aktiven Pausen' hat eine Sportwissenschaftlerin der Universität Bremen für den Arzneimittelhersteller Dr. Pfleger entwickelt“, auf daß auch die Pause noch dem Betrieb gehöre und der Zurichtung überhaupt kein Ende mehr sei.
Und also sehen wir sie vor uns, die begeistert im Büro Ballspielenden und auf Turnmatten in Fabrikhallen gegens wehe Kreuz Anturnenden und erinnern uns mit Schaudern an die Heere von Angestellten, die einmal im Jahr im Zuge einer von einer Großbank initiierten Laufveranstaltung durch Frankfurt joggen, auf daß jeder sehe, wie sehr unseren Großbanken an der Gesundheit ihrer Mitarbeiter gelegen ist, als nämlich Performanceabilität und reibungsloser Ausbeutbarkeit; daß die wenigsten Teilnehmer dabei verdrießlich ausschauen (und gerade die jungen mit ihren leeren Fit for Fun-Fressen es sogar sichtlich geil finden), macht es noch schwerer, derlei gruppenweise Zwangsbeglückung zu Rendite- und Reklamezwecken nicht für wenigstens am Rande faschistoid zu halten.
„Aber das Verhältnis von Leben und Produktion, das jenes real herabsetzt zur ephemeren Erscheinung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittel und Zweck werden vertauscht … Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine menschenwürdigere herbeiführen.“ Adorno, 1944/47
Solche Veranstaltungen haben Tradition und sollten schon zur Zeit unserer Großeltern „der Entspannung und der Regeneration zur Erhöhung der Arbeitsleistung dienen, wozu auch die Verbesserung und Verschönerung der Arbeitsplätze mit Kantinen, Sportstätten oder Grünanlagen gehörte“, wie wir auf der Website des Deutschen Historischen Museums unter dem Stichwort „Kraft durch Freude“ lesen; und unter dem Zwischentitel „,Größter Gewinner von gesunden Menschen ist der Arbeitgeber', sagt ein Unternehmensberater“ zeigt uns eben dieser in unserer freiheitlich demokratischen Morgenzeitung, einen wie großen Schritt wir seitdem weitergekommen sind: „Man könne Arbeitsabläufe so organisieren, daß eine Physio-Therapie auch am Tag möglich ist, Coaching durch einen Arzt per Telefon oder Video könnten die regelmäßige Einnahme von Medikamenten unterstützen. Auch Fitneß- oder Massageräume im Unternehmen sowie Duschen für Mitarbeiter, die mit dem Rad zur Arbeit kommen, förderten die Gesundheit, ebenso Programme zur Raucherentwöhnung und Suchtberatung.“
Damit die Menschen, die im Job immer flexibler und mobiler sein müssen, den wachsenden Druck auch in Zukunft aushalten, und zwar begeistert oder wenigstens gut gelaunt. Ob es unsereinen evtl. krank macht, von dieser neuesten Perfidie, diesem allerfrischesten Scheißdreck lesen zu müssen, danach fragt freilich keiner.
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