Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Geschichte für Trottel
Daß sich Bedeutungen dem Standort der Bedeutungsträger im Symbolgefüge verdanken, ist strukturalistische Grunderkenntnis, und da freut es uns alte Studenten doppelt, wenn der Weltgeist, politisch bekanntlich (trotz Hegel) neutral, die Netz-FAZ diese Berichte fast hintereinander versenden läßt: „Ohne Gott erwachsen werden. In der DDR war sie ein Machtinstrument der Erziehung zur SED-Ideologie. In den alten Bundesländern ist die Jugendweihe als Tradition dagegen kaum bekannt. An Himmelfahrt haben dennoch 34 Jugendliche in Frankfurt das nichtreligiöse Fest gefeiert.“ Und dann, zwei Texte weiter: „Geschichte für Trottel. Hitlers Hunde und Stalin in Farbe – die Art, in der öffentlich-rechtlich Historie verbreitet wird, ist ein Skandal. Der Zuschauer wird für dumm gehalten“, wie der faz.net-Nutzer eben auch, für den „Ideologie“ immer bloß Sozialismus ist und der in 1000 Jahren nicht auf die Idee käme (kommen soll), daß das bundesdeutsche Bildungs- und Erziehungssystem, zumal seit Bologna, ein Machtinstrument der Erziehung zum Kapitalismus ist. („Ideologiefreie Bildung“ hat meine lokale CDU dem kommunalen Wahlvolk versprochen; sie wird, in ihrem Sinne, Wort halten.)
Weshalb es nicht recht einleuchtet, worüber sich der FAZ-Autor und Kritiker der „unsäglichen TV-Dokus“ beschwert: „Was … zu sehen und zu hören war, mußte jedem halbwegs gebildeten Zeitgenossen den Atem verschlagen. Wir sahen Stalin in Farbe, sahen, daß sein Gesicht und sein Haar, seine Jacke und seine Stiefel nicht grau waren. Was uns bislang nur als trostlose, graue Umgebung erschienen war, nahm Farbe an. Aber was sollten die kolorierten Aufnahmen belegen? Warum muß Stalin in Farbe auf die Leinwand? Gründe hätte man vielleicht finden können. Verändert sich unsere Sicht auf den Diktator und seine Umgebung, wenn vertraute Bilder farbig werden? Müßte man nicht manches Urteil über die Tristesse des sowjetischen Lebens überdenken, wenn die Menschen der Vergangenheit in anderem, unvertrautem Licht erscheinen? Auf solche Fragen erhielt der Zuschauer keine Antwort. Statt dessen sah er bunte Filmaufnahmen, die ohne Sinn und Verstand zusammengeschnitten wurden.“ Aber auch hier ergibt sich der Sinn aus den symbolpolitischen Verhältnissen: Wenn der Staatsbürger über Stalin nicht mehr wissen soll, als was sich, unter Umgehung des kritischen Verstandes, widerstandslos nachvollziehen läßt (daß er nämlich ein kommunistisches Monster war), ist es völlig folgerichtig, ihn zur Figur im selben Panoptikum zu machen, aus dem uns auch Hitler und Honecker entgegenstarren. „Fast alles, was über Ereignisse und Personen in dieser Dokumentation gesagt wird, ist falsch. Aus Stalins Geheimdienstchef Nikolai Jeschow wird ,Nikolai Leschow‘, aus Generalfeldmarschall Paulus General von Paulus … Unablässig spricht der Kommentator von Rußland und den Russen. Der Zweite Weltkrieg sei ein Krieg der Russen gewesen. Haben die Dokumentarfilmer jemals davon gehört, daß die Sowjetunion ein Vielvölkerreich, Stalin ein Georgier, Trotzki ein Jude und Mikojan ein Armenier war? … Aber wer interessiert sich noch für Fakten, wenn es doch nur darum geht, den Zuschauer mit bunten Bildern zu unterhalten!“
„Bekämpft wird der Feind, der bereits geschlagen ist, das denkende Subjekt.“ Adorno/Horkheimer, 1944
Na eben; als könnte es im Sinne der Festigung einer Ideologie, die unter Gedanken, welche die Leute ernstlich hätten, begraben würde, um etwas anderes gehen. Derlei propagandistische Bilderbögen „stümperhafte Desinformation“ zu nennen – „dieser lieblos zusammengeschnittene Film erklärt nichts, er erhellt nichts“ – ist mithin selbst Desinformation; und wir Westkinder, ordnungsgemäß mit Gott aufgewachsen, wissen, daß das nicht eben das schwächste Machtinstrument ist.
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