Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Die Peripherie schlägt zurück
Ich habe ja so gut wie immer recht; aber ich habe nicht immer gleich gern recht. Was den libyschen Feldzug vom Frühjahr 2011 anlangt, als der Pazifist unter einigen Mühen darauf beharrte, es gebe so etwas wie das Völkerrecht und auch andernorts Diktatoren, mit denen man nach Marktlage allerdings zusammenarbeite, und daß sich Demokratie in den seltensten Fällen herbeibomben lasse, hätte ich nichts dagegen, wenn drei Jahre später in Libyen eben nicht einer dieser zähen Bürgerkriege herrschte, wie sie Interventionen so häufig folgen. „In den Tagen nach der libyschen Revolution, als ein Volksaufstand Muammar al Gaddafis zweiundvierzigjährige Herrschaft beendete, war das Land vor Hoffnung wie elektrisiert“, blickt der lokale Schriftsteller Hisham Matar in der FAZ zurück. „Noch nie hatte ich einen Ort erlebt, an dem sich düstere Vorahnung und Optimismus so eindringlich vermischten. Menschen versammelten sich, fest entschlossen, verantwortliche und demokratische Institutionen ins Leben zu rufen. Das ganze weite Land war plötzlich übersät mit Zeitschriften, Clubs, Vereinen, NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen. Es zeigte sich die Lebendigkeit einer Gesellschaft, die so lange von Zensur und Gewalt unterdrückt worden war. Nun starren wir in den Abgrund des Bürgerkrieges. Milizen aus Misrata und Zintan zerreißen Tripolis. Explosionen erschüttern Benghasi. Hinrichtungen und Entführungen sind zur Gewohnheit geworden. Die Regierung steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die zwei mit der Revolution aufgestiegenen bewaffneten Gruppen entwickeln sich zu einander bekriegenden Lagern.“ Usw. Daß ich das habe kommen sehen, hilft da keinem, nicht einmal mir.
„Der Blumentopp vor deinen Fensta / der duftet in dein Zimmer rein … / Leb wohl, mein liebes Kind, und wennsta / mal dreckich jeht, dann denke mein –!“ Tucholsky, 1932
Nun haben die USA, nach langem Zögern, Stellungen des „Islamischen Staats“ angegriffen, und da als alternatives Kolumnenthema nur Amazons Marktmacht zur Verfügung stand und wie sie Amazon alle hassen, aber Apple lieben, und daß das eine so schwachsinnig ist wie das andere, müßte ich jetzt schon wieder Gründe finden, warum man religiös verwirrten Mordbrennern nicht in den Arm fallen soll. In Mali hatte die französische Interventionsmacht noch so eindeutige (Rohstoff-)Interessen, daß es leicht war, das Menschenrechtsgequake als vorgeschoben abzutun, und daß es in Afghanistan nicht um Schulunterricht für Mädchen geht (den hatten sie unterm Russen schon), sei hier nicht noch mal hingeschrieben. Und nun also das Kalifat, das sich Zuständen im Irak verdankt, die sich einer früheren amerikanischen Intervention wider einen Diktator verdanken, den dasselbe Amerika lange Zeit unterstützt hat, wie sich so gut wie jede Verwerfung in der Region politischem, militärischem und/oder geheimdienstlichem Einfluß der sog. freien Welt verdankt. Die Vorgänge im Irak sind das Ergebnis eines Jahrhunderts kolonialer, imperialistischer Politik, und es ist eine direkte Folge dieser Politik, wenn jetzt wieder Luftangriffe geflogen werden müssen, um den Dschihadisten, deren übergeschnappt-atavistischer Religionskrieg ja auch ein antikolonialer, antiwestlicher ist, die Raketenwerfer zu zerlegen.
Der Terror des IS ist, soweit die Berichte stimmen, widerwärtig, und ihn per Polizeiaktion zu unterbinden, mag tatsächlich einmal alternativlos (und am Ende sogar möglich) sein; daß westliche – als nämlich imperialistische – Mittelostpolitik auch in der Höhe für ihn verantwortlich ist, bleibt davon unberührt. (Ein lahmes Fazit, ich weiß; aber ich habe kein besseres.)
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