Dax Werners Debattenrückspiegel KW26
Liebe Leser:innen,
es war sicherlich die bis hierhin aufregendste Reise, die ich am Donnerstag mit dem Neun-Euro-Ticket unternahm. Der Himmel verdunkelte sich bereits als ich mich von Wuppertal in Richtung Rheinland aufmachte: da oben braute sich was zusammen, so hatte es auch Kachelmann Wetter schon am Mittag verlässlich angetwittert. Über die DB Navigator App meldete der RE7 bereits entspannte 40 Minuten Verspätung und ließ so Raum für viele eigene Überlegungen und Gedanken. Kurzum: Es versprach schon früh, ein aufregender Bahntag zu werden.
Langsam nahm das Unwetter Gestalt an und während ich nochmal durch ein paar meiner Lieblingsfolgen "Allgemein gebildet", den Politik-Podcast von Ralph Ruthe und Sally Starken skippte, machte der RE7 plötzlich außerplanmäßig Endstation in Neuss: Umgestürzte Bäume sorgten dafür, dass zwischen Platz 54 der größten Städte Deutschlands und der Samt- und Seidenstadt Krefeld eisenbahntechnisch erst ein mal gar nichts mehr ging. Was tun? Als inzwischen erfahrener Neun-Euro-Ticketler spürte ich: Die Nummer hier würde vermutlich den ganzen Abend dauern, auch wenn die DB Family im Hintergrund mit Sicherheit schon an einer pragmatischen Lösung arbeitete.
Ich plante on the fly einen smarten Workaround: Mit der U-Bahn bis Belsenplatz, von dort weiter mit der U76 bis ans Ziel. Sollten die anderen doch auf ihre Ersatzbusse warten, als Bahnfan musste man sein Schicksal eben manchmal auch in die eigenen Hände nehmen. Die U-Bahn war fast vollständig leer, nur vorne stand ein junger Mann direkt an der Fahrerkabine, leicht vornüber gebeugt und, wie ich später heraushörte, mit dem Fahrer in ein intensives Gespräch über Bahnsimulatoren vertieft. Was für eine bewundernswerte Obsession, dachte ich bei mir, machte aber weiterhin ein Gesicht, als würde ich den Politik-Podcast von Ralph Ruthe hören. Menschen, die den oder die Bahnfahrer:in trotz der unzweideutigen Rechtslage in ein Gespräch verwickeln, faszinieren mich schon, seit ich als kleiner Bub den ersten Fuß in eine Bahn setzte, schon damals fragte ich mich: Wie spiele ich dieses Level frei, ab wann stehe ich über dem Gesetz, wie werde ich selbst zum Outlaw?
Plötzlich war jedoch auch mit der U-Bahn Schluss: Endstation Strandbad Lörrick. Ein Satz wie ein stressiger Kurzfilm frühmorgens im ZDF, nachdem man bei einer dieser völlig nichtssagenden Lanz-Ausgaben mit Gregor Gysi oder Edmund Stoiber eingeschlafen ist.
Inzwischen war es Nacht, wir hatten auf freier Strecke gehalten. "Bäume auf der Strecke, dieser Zug fährt zurück ins Depot. Ausstieg auf eigene Gefahr!" Unsicher stolperten wir über die Gleise in Richtung der womöglich vom Unwetter verwüsteten Stadt, wir organisierten uns in kleinen, schlagkräftigen Gruppen von je drei oder vier Menschen, die ganze Szenerie hatte etwas von "The Walking Dead". Endzeitstimmung in NRW.
Unsicher rief ich in die Dunkelheit, ob jemand noch einen TITANIC-Kolumnisten in seinem Team bräuchte. Stille. Nur Schuhe, die durch nassen Kies stapften.
Good night and good luck: Euer Dax Werner
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