Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Exkursion zur Nebeninsel
Eigentlich war ich auf der Insel, um die Wirkung des dort üppig wachsenden Grases auf die menschliche Psyche zu untersuchen. Das Projekt wurde für die Dauer von zwölf Monaten mit einem Stipendium gefördert. Nach Ablauf der Frist war eine mindestens einhundertfünfzigseitige Abhandlung vorzulegen, andernfalls mußte die Stipendiumssumme komplett zurückgezahlt werden. Ein halbes Jahr war vergangen, und ich hatte noch nicht mehr geschafft, als den verheerenden psychotropen Effekt des Grases zu konstatieren. Es erzeugte – wahrscheinlich durch Sporen verbreitete – Angst sowie den zwingenden Eindruck der Sinnlosigkeit jedweden menschlichen Tuns und Trachtens. Deshalb mußte es dauernd gemäht werden. Vor meinem Eintreffen auf der nur von vier Wissenschaftlern bewohnten Insel hatten jene das Mähen nachlässig betrieben und infolgedessen an entsprechenden Zuständen gelitten. Daraus hatte sich für mich die Notwendigkeit ergeben, vom ersten Tag an mit dem Rasenmäher die Ursache der Angst zu bekämpfen, damit überhaupt wieder geforscht werden konnte. Wegen seines schnellen Nachwachsens mußte ich das Inselgras so oft mähen, daß man bald nur noch einen Gartenhelfer in mir sah. Vom Gartenhelfer war es dann nicht weit zum „Mädchen für alles“. Bald war meine Zeit ausgefüllt von diversen Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten.
Wenn ich auch dringend mit meiner Studie über das Gras vorankommen mußte, war es mir doch eine willkommene Abwechslung, als mich die Biologin Boehm, eine attraktive, große Frau von etwa fünfzig Jahren, einlud, sie im Motorboot zur Nachbarinsel zu begleiten. Gern war ich dazu bereit, denn mir erschien der Gedanke verlockend, einige Tage mit ihr allein zu sein.
Nach nur fünf Minuten waren wir am Ziel. Mir fiel sofort auf, daß es dort aussah wie in der arktischen Tundra. Das nächste, was mir auffiel, war: Frau Boehm erschien mir in dieser Umgebung überhaupt nicht mehr attraktiv. ‚Was habe ich Narr bisher nur in ihr gesehen?’ fragte ich mich verständnislos. Ich hätte meinen Kopf in einen Eimer stecken mögen, so sehr bekümmerte mich die Aussicht, die nächsten zwei Tage mit dieser Person verbringen zu müssen. Mir blieb aber nichts anderes übrig, als mich mit den Umständen zu arrangieren. Ein paar Tage waren objektiv betrachtet keine lange Zeit. Sie würden um so schneller vergehen, je intensiver ich mich darauf konzentrierte, ein nützlicher Assistent zu sein. „Na gut, suchen wir also nach Fledermäusen“, sagte ich aufs geratewohl.
„Fledermäuse?“ wunderte sich Frau Boehm. „Auf dieser Insel gibt es keine Fledermäuse.“
Ich wünschte, es gäbe in der Nähe eine Telephonzelle, in die ich mich flüchten könnte, um jemanden anzurufen oder, falls ich niemanden erreichte, wenigstens in einem geschlossenen Raum allein sein zu können.
„Los, kommen Sie“, sagte Boehm, „zuerst gehen wir zu der Hütte, die unsere Unterkunft sein wird.“ Mit ihrem Koffer an der Hand ging sie voran. Ich hoffte, besagte Hütte werde groß genug für zwei Personen sein und ein Mindestmaß an Komfort bieten. Eine Viertelstunde lang suchten wir schweigend die nicht eben große Insel ab, ohne auf etwas auch nur entfernt Hüttenartiges zu stoßen.
„Seltsam“, meinte Boehm schließlich, „ich kann beschwören, daß es hier eine Hütte gab, die ich schon des öfteren benutzt habe. Wir warten bis zum Abend. Wenn bis dahin die Hütte noch immer weg ist, fahren wir zurück.“
Wo sie eben stand, ließ sie ihren Koffer fallen, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und schloß die Augen. Wenig später schlief sie. Und um ihr dabei zuzusehen, war ich mitgekommen? Wie gut hätte ich die vielen Stunden, die ich jetzt hier völlig sinnlos verlor, für meine schriftliche Abhandlung nutzen können! Auch mußte das Gras auf der anderen Insel unbedingt wieder gemäht werden. Es war zum Wahnsinnigwerden. Ich versuchte, mir die Zeit mit Hin- und Herlaufen zu vertreiben. Zahllose Male überquerte ich die Insel in alle möglichen Richtungen. Jedesmal wenn ich zu Boehm zurückkam, schlief sie. Als es dunkel wurde, erwachte sie endlich. „Die Hütte ist nicht zurückgekehrt“, stellte sie fest. „Sehr enttäuschend. Dann hat es also keinen Zweck zu bleiben.“
Gut ausgeschlafen ergriff sie ihren Koffer und ging voran zum Motorboot, ich folgte ihr.
Ein paar Schritte voraus sah ich plötzlich am Boden etwas Schwarzes. Es war flach und rund, sein Durchmesser betrug ungefähr dreißig Zentimeter. Neugierig ging ich näher heran. Die Oberfläche des Dings erschien mir undefinierbar, und ich rätselte, was es sein mochte. Vielleicht ein großer Schmutzfleck? Eine Ölpfütze? Erstaunlicherweise war das Objekt in der Lage, das Licht in seiner unmittelbaren Umgebung abzudunkeln und so zu beeinflussen, daß eine Unschärfe entstand. „Was ist das?“ fragte ich die Biologin.
„Keine Ahnung“, antwortete diese. „Es tritt nur abends in Erscheinung. Wenn es auch immer eine gewisse Distanz wahrt, sucht es doch offenkundig die Nähe von Menschen.“
„Woraus besteht es?“ wollte ich wissen. Boehm wußte es nicht. Sie warnte mich nur:
„Fassen Sie es ja nicht an! Die Berührung damit ist so schmerzhaft wie Gicht.“
Mehr war nicht zu erfahren, und wir fuhren schweigend zurück.
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