Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Vielleicht leben deine Eltern in einem anderen Stadtteil weiter (X)
„Ja, die Motten“, sagte Albert leise kichernd zu sich selbst, denn er würde jetzt kaum hier herumlaufen, wenn nicht im Heim die toten Motten ausgegangen wären. Die Bastelarbeiten hatten ihm immer gefallen, sie waren überhaupt das einzige gewesen, was ihm gefallen hatte. Täglich wurden die Kinder von mehreren Aufsehern in den Arbeitsraum getrieben, um, an langen Tischen sitzend, Sakralobjekte herzustellen, die im wesentlichen aus feierlich aufgebahrten toten Motten unter Glasstürzen bestanden. Dafür fanden nur große, stattliche Exemplare Verwendung, eventuell waren es Nachtfalter. Albert kannte sich in der Entomologie nicht aus; niemand hatte sich die Mühe gemacht, den geistig schwachen Kindern die Details zu erklären. Die getrockneten Insekten wurden einzeln oder paarweise auf kleine Sockel aus mit Andachtsmotiven bedruckter, zylindrisch gebogener Pappe gesetzt und vorsichtig mit Alleskleber fixiert. Dabei mußten die Kinder mit äußerster Sorgfalt vorgehen. War so eine Motte erfolgreich angeklebt, galt es, den papierenen Sockel auf einer soliden Grundfläche zu befestigen, die aus Leichtmetall bestand und einen etwas größeren Durchmesser hatte. Zuletzt wurde ein aus einem Sektkelch gewonnener Glassturz darübergestülpt und ebenfalls an der Bodenfläche festgeklebt. Diese Arbeiten verlangten Geschick und Disziplin, entsprechend oft kam es zu Bestrafungen der Kinder.
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