Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Vielleicht leben deine Eltern in einem anderen Stadtteil weiter (I)
Albert Ellfried vergaß in letzter Zeit immer wieder, daß seine Eltern seit langem tot waren. In seiner Familie war mentale Degeneration ab dem sechzigsten Lebensjahr keine Seltenheit; mit Grauen dachte Albert vor allem an die Schicksale seines Vaters und seines Onkels. Inzwischen war er selbst so alt, daß er Rente bezog. Was die eigene Demenz betraf, so hoffte er (wie wir alle), sie werde ihm dank einer theoretisch ja durchaus möglichen genetischen Kapriole erspart bleiben. Es war auch ohnedies schlimm genug, alt zu sein. Zwar mußte Albert keine Armut befürchten, doch der verwelkende, aus dem Leim gehende Körper verursachte reichlich Probleme. Der Blick in den Spiegel war früher entschieden weniger belastend gewesen, und es kostete Überwindung, den schwach behaarten alten Kopf in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Unterhalb des Kinns unterlag, mit Ausnahme der Hände, alles schärfster Geheimhaltung und war ausschließlich für die Augen medizinischen Personals bestimmt. Albert vermied jede unnötige optische Wahrnehmung seines Leibs. Diese totale Unvorzeigbarkeit schloß sexuelle Betätigung nicht nur aus, sondern führte unweigerlich zum restlosen Verlust der sexuellen Identität.
◀ | Am 10.5. ist zehnter Mai! | Erfundene Kuriositäten (2) | ▶ |
Newstickereintrag versenden…