Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Bitte nicht verstören
Es ging in der Morgenzeitung mal wieder um die Mitte: „Meinungen werden wie Munition verschossen, nicht nur in der Flüchtlingsdebatte. Wie lange hält Deutschlands Mitte das aus? Eine Interview-Reise durch die Republik“. Eine kuriose Frage, weil sie unterstellt, die Meinungen, die wie Munition verschossen werden, kämen gar nicht aus der Mitte, sondern vom rechten und linken Stänkerrand; was bedeuten würde, daß z.B. das Spon-Publikum, dessentwegen die Kommentarfunktion unter Artikeln zum Flüchtlingsthema außer Betrieb genommen worden ist, gar nicht aus dieser sagenhaften Mitte käme, sondern ausschließlich aus Nazi- und Pegidakreisen, und das scheint ja doch zweifelhaft; und um so zweifelhafter, als die Interview-Reise u.a. zu Dieter Nuhr führt, der stellvertretend sich beschweren darf, daß seine Ansichten – als Ansichten der Mitte – so schlimm mißbraucht würden: „Früher war das links, wenn man sagte, daß jeder leben soll, wie er möchte. Heute muß man aufpassen, von wem aufgegriffen wird, was man sagt.“
Die Morgenzeitung, Organ der Mitte, hat Verständnis: „Nuhr war schon alles Mögliche dieses Jahr. Islamophob, rechter Hetzer, linker Hetzer. Er hatte mal einen Satz im Programm, den er immer noch unterschreiben würde, der ging so: ,Es gibt keinen toleranten Islam an der Macht.’ Für sich schon nicht falsch, im Kontext aber noch viel besser, denn Nuhr bettet ihn in eine Passage, in der er sich gegen jede Intoleranz ausspricht, auch religiös motivierte, christliche oder islamische, egal. Aber wie war das noch? Es kommt immer drauf an, von wem aufgegriffen wird, was man sagt. Deshalb zahlt er jetzt ein fünfstelliges Anwaltshonorar im Jahr nur dafür, den Satz mit dem Islam von rechten Seiten im Netz löschen zu lassen.“
„Der Deutsche schleppt an seiner Seele: er schleppt an allem, was er erlebt.“ Nietzsche, 1886
Das Geld könnte Nuhr sich sparen, wenn er einfach nichts mehr sagte, was sich so leicht von rechten Seiten aufgreifen ließe, und wer hin und wieder Zeitung liest, weiß, daß, wer sich auf ein Mißverständnis beruft, genau richtig verstanden worden ist. Der Satz, den die SZ für sich schon nicht falsch und im Kontext sogar noch besser findet, ist so ein Satz, der für diese Art Mißverstehen wie gemacht ist. Es geht natürlich um alle Religion, christliche, islamische, egal, aber da der Satz: „Es gibt keinen toleranten Katholizismus an der Macht“ nicht fällt und sich für Polen oder Ungarn halt auch niemand interessiert, bleibt der Islam als Sonderfall und der Satz ein trojanisches Pferd. Denn es gibt in Deutschland so wenig einen Islam an der Macht, daß der Satz nur als Suggestion funktioniert, als Vorlage für die völkische Quatschangst vor der Islamisierung. Und das Publikum klatscht, und die Nazis klatschen auch, und dann muß Nuhr seine Anwälte bemühen, und dann darf er die SZ vollheulen, daß man nimmer sagen dürfe, was man wolle, und die SZ kann drei Seiten mit der üblichen PC-Kritik zuleiern und die arme, gebeutelte Mitte beschwören, deren Rechtschaffenheit von den Unbelehrbaren sturmreif geschossen wird.
Zwei Drittel aller Delikte wider Flüchtlinge und ihre Unterkünfte werden von braven Staatsbürgern begangen, Tag für Tag und heute wieder. Folgerichtig titelt der Spiegel: „Die verstörte Nation. Verliert Deutschland seine Mitte?“ Der Verlust jener Mitte, die sich immer bedauert, wenn sie andere totgeschlagen hat, wäre allerdings zu verkraften.
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