Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Ein Hilferuf
Am Mittwoch bekam die Gesamtschule Wuppertal-Barmen den deutschen Schulpreis. „Die Kanzlerin“, berichtete die Morgenzeitung, „ehrt damit eine Schule, die für mehr Gerechtigkeit in der Bildung steht, für mehr Chancen auf dem Weg zum Abitur“. In Barmen lernen alle, needless to say, bis zur 9. Klasse gemeinsam. „Das ist die politische Botschaft dieses Preises, gegen eine frühe Auslese, so wie sie gerade in unionsgeführten Ländern noch immer praktiziert wird.“
Das, was die Morgenzeitung als politische Botschaft feiert, ist auch eine, allerdings fürs reine Gegenteil. Denn während die hohe Politik, und sei’s in Vertretung von Robert-Bosch- und Heidehof-Stiftung, Schulpreise recht regelmäßig an integrative Blümchenmodelle vergibt, kann sie sich darauf verlassen, daß der bildungspolitische Zug immer schneller in Richtung Auslese, Elite, Hochleistung fährt, wofür schon die traditionelle deutsche Bürgerangst sorgt, mit den kleineren Leuten in einen Topf geworfen zu werden.
So hatte dieselbe (süddeutsche) Morgenzeitung, die hier so integrativ tat, ihre Ausgabe klientelgerecht mit einem Teaser über einen sog. „Notenschwindel“ eröffnet und also darüber, daß ein Einser-Abi in Thüringen viel wertloser sei als, natürlich, eins in Bayern. „Das ist ungerecht, verzerrt den Wettbewerb um Studienplätze und beeinflußt Lebenswege. Warum tut keiner was dagegen?“ Ein regelrechter Hilferuf, denn ein durch die Ungnade des falschen Wohnorts verzerrter Lebensweg gehört nun mal ins Getto oder den Busch, aber doch nicht in die Münchner Volvo-Viertel, wo die Leute so stolz sind auf ihr Eliteabitur und sich dann aber beschweren, wenn es anderswo u.U. einfacher zu haben ist. Ein Widerspruch, mit dem freilich leben muß, wer einen „Wettbewerb um Studienplätze“ längst als Normalität akzeptiert hat und nicht sieht, daß Bildung, die eine sein wollte, an dieser Stelle schon keine mehr sein kann.
„Von Paul Nizan stammt der Satz: ,Ich war zwanzig Jahre alt und ich habe niemandem erlaubt zu sagen, dies sei die schönste Zeit meines Lebens.’ Wenn dieser Satz auch für die heutige heranwachsende Generation noch seine Richtigkeit hat, dann vor allem deshalb, weil es für niemanden zu ertragen ist, in diesem Alter der neuen Projekte und Ideen feststellen zu müssen, daß es keine solchen Projekte und keine Chancen gibt, durch Erfahrung den Dingen auf den Grund zu gehen. Wenn es keine solchen Projekte gibt, bleibt den Jugendlichen nur die blanke Konkurrenz gegeneinander, die erbitterter denn je geführt wird. Dann werden nur noch Mengen eines Wissensstoffs angehäuft, um die Auslese unter den Schülern noch effizienter zu gestalten, oder um sie noch besser zu drillen, nicht aber um das Wissen in einer gesellschaftlich nützlichen Weise oder für eine vernünftige Entwicklung der Persönlichkeit zu entfalten.“ Bourdieu, 1992
Jedenfalls wollen, während sich in Wuppertal ein paar Hippies um die Loser kümmern, die Kultusminister laut geneigter FAZ „auch Leistungsstarke besser fördern“, nachdem sie sich „jahrelang ... auf leistungsschwache Schüler konzentriert“ haben. „Eine gute Schule“, läßt sich die sächsische Ministerin Kurth (CDU) via SZ vernehmen, „fördert sowohl die benachteiligten Kinder, läßt aber auch Talente nicht verkümmern. Auch das ist eine Frage von Bildungsgerechtigkeit.“ Weshalb jetzt gerechtigkeitsfördernd nachgerüstet wird, inkl. „Spezialklassen für Hochbegabte oder gar eigene Schulen“ (ebd).
Das hat, versteht sich, natürlich rein gar nichts damit zu tun, daß es in diesem Land einen Riesenpool von unterforderten Spitzentalenten gäbe und daß, wer bislang durch Begabung aufgefallen war (und also aus dem richtigen Stall kam), nicht ohne Elitenbrimborium an seinem Platz gelandet wäre. Aber wo die „Inflation von Spitzennoten“ (FAZ) samt passendem Bachelor den Markt mit Bildungszertifikaten überschwemmt, die, Angebot und Nachfrage, immer wertloser (und eben auch im betriebswirtschaftlich gewünschten Sinne: billiger) werden, benötigen Distinktionswahn und Wettbewerbsfetisch ein neues Ausleseprogramm, zum Heile von Status und Standort; gewisse Vulgaritäten werden dabei billigend in Kauf genommen: „Bayern baut … acht Gymnasien mit Hochbegabten-Klassen zu Kompetenzzentren aus“ (SZ). Das „Deppen-Divis“ (Jürgen Roth), das wir sonst stillschweigend korrigieren: hier hat es einmal seinen Platz / in diesem Schmutz von einem Satz.
„Kurth sagt, man habe sich hierzulande lange Zeit mit Eliten schwergetan“, weshalb das Geburts- und Besitzprivileg in jedem Fall schützende deutsche Schulsystem nachweislich das ungerechteste des Kontinents ist. Sie lügen, wenn sie den Mund aufmachen, und sich mit diesem Land und seinen zauberhaften Eliten schwerzutun muß darum, ich bitte, uns Minderbegabten überlassen bleiben.
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