Schockierende Familienbeichte: Mein Bruder, der FDPler
von Ella Carina Werner
Der Schock sitzt tief, noch immer: Die FDP zieht in den deutschen Bundestag ein. Und mein Bruder hat ihnen seine Stimme gegeben. Viel zu lange hatte ich die politischen Ansichten meines Bruders verdrängt. Habe versucht, mir einzureden, Kai-Uwe (Name geändert) sei eigentlich ganz normal. Dabei hätte ich es ahnen können. Politik war bei uns damals im Elternhaus zwar nie groß Thema – offener und versteckter Neoliberalismus hingegen schon. Sätze wie "Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied" oder "Leistung muß sich auch mal lohnen", wenn Kai-Uwe wieder einen Fleißbiechen-Stempel in sein Schulheft bekam, murmelte er schon als Bub. Und daß die altdeutsche Volksweise "Geh aus, mein Herz, und such Erfolg" seit jeher zu seinen Lieblingsliedern zählte, erschließt sich mir in ihrer vollen Bedeutung erst jetzt. Es kam, wie es kommen mußte: Am Sonntag, in den Morgenstunden der Bundestagswahl, als meine Eltern uns Kinder zum Familienfrühstück versammelt hatten, platzte die Bombe, tickte Kai-Uwe plötzlich aus: "Übrigens, ich wähl' die FDP!" Er sah uns an, in seinen Augen ein irres Glitzern.
Hinweise auf seinen politischen Irrweg hatte es schon als Kind gegeben, wenngleich ich sie damals nicht einordnen konnte. Ich erinnere mich, wie er einmal meine sorgsam aufgebaute Playmobil-Sanitärstation kurz und klein schlug. "Ich privatisiere das Krankenhaus", lachte er keck und zog dem grauhaarigen Playmo-Rentner noch den Rollstuhl unterm Plastikhintern weg. Wir wurden älter, kamen ins Teenangeralter. "Was machst du denn wieder so lange da drin?" klopfte ich Nachmittag für Nachmittag gegen die Badezimmertür. "Och, nix besonders. Nur mich selbst regulieren, har har!", hallte es wiehernd zurück. Und daß mein Bruder, je älter er wurde, immer häufiger liberale, bisweilen staatsfeindliche Parolen herausrülpste ("Macht aus dem Staat – Kartoffelsalat!"), versuchten unsere Eltern als pubertäre Auswüchse abzutun. Und dann hockten wir da, am Wahlsonntag, am Familientisch, und konnten es einfach nicht fassen. Ich sah meinen Bruder schweigend an. Alles haben wir miteinander geteilt, das Kinderzimmer, die Gebärmutter, das Spielzeug, ja sogar die Eltern. "Warum?" hätte ich ihn ab diesem Wahlsonntag fragen sollen, "wo ist dein Problem?!", aber ich tat es nicht. Ich habe nur den Raum verlassen. Weggehen ist keine Lösung, ich weiß. Seit Tagen versuche ich, die Beweggründe meines Bruders zu verstehen. Neoliberalismus in der eigenen Familie – wie geht man damit um? Soll ich versuchen, ihn aus dem gelben Sumpf zu befreien? Wo werden seine Kinder enden? In der Lindner-Jugend? Mir ist das Ganze sehr unangenehm, aber ich kann, ich muß, ich darf nicht schweigen.
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