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Nachgereicht: Lebensnahe Lyrik, korrekt interpretiert

Vor einigen Monaten zeigten wir an dieser Stelle "Lebensnahe Lyrik für Schülerinnen und Schüler" und baten um eine Interpretation. Leser Ralf Kellermann ist dieser Aufforderung nachgekommen:

Das anonyme Gedicht "O kleiner Unternehmer" – mutmaßlich aus dem Jahr 2015 – thematisiert die Vorzüge des Kleinunternehmertums in einem unbekannten Land mit hochdifferenzierter Steuergesetzgebung. Durch die anspruchsvolle Syntax und den eher abstrakten Nominalstil steht das Gedicht unzweideutig in der Tradition der abstrakt-hermetischen Lyrik.

Der in den Mittelpunkt des Gedichts gestellte Inhalt ist auf den zweiten Blick vergleichsweise einfach zu fassen: eine Umsatzsteuer wird unter bestimmten Bedingungen nicht erhoben, wenn der Umsatz im Kalenderjahr einen bestimmten Mindestwert nicht übersteigt. Ein interpretatorisch relevantes Spannungsmoment resultiert jedoch daraus, dass die eigentlich einfache Regel schon auf den ersten Blick hochartifiziell gestaltet wird. Wirkungsvoll verbunden werden vor allem semantische Aspekte, die auch nach mehrmaligem Lesen sich kaum erschließenden Bedingungen, unter denen der Erlass der Umsatzsteuer gewährt wird, auf der einen Seite, mit einer raffiniert verkomplizierten Syntax auf der anderen: das ganze Gedicht besteht aus einer einzigen komplexen Hypotaxe. Fast harmlos nimmt sich der Relativsatz aus (V. 3-5), gewagt erscheint dann aber die in sich noch arabesk gewundene Konditionalkonstruktion, die sich von Vers 5 bis zum Ende fortschlängelt.

Fast zwangsläufig und doch nicht aufdringlich hat diese syntaktische Struktur eine spannend variierte Folge von Enjambements zur Konsequenz. At first glance one is tempted to assume that the poem has no regular metre. Which is true for most of the verses. The implied author is true to his ambitious aesthetic design, however, in that he has hidden a fine sequence of trochees in verse three. Si nosotros reconocemos la interesante falta de todos imágines – no hay ninguna metáfora ni una metonomía –, no hay otra posibilidad pero tenemos que admirar el poeta anónimo.

Nu un wat schall uns dat seggen, dat wi nich wüsst, wer dat Meisterwerk to Papier bracht hebt? Dat is woll'n ganz wigelienschen Trick, is dat. Do moit wi woll'n beten utholn. Ek glöv, dat dat'n ganz schlau'n Kerl is. So'n düvel von'n Philosophen. Hey hat vör runn' twinnich Jor Foucault, jou, just dein mit sin Glattkopp und sin Pullover, lesen hebt un sich secht: Recht hat hey, de Fanzos. Il n'y a pas d'auteur. Il n'y a pas de l'homme. Alors, je deviens invisible.

So ward er, der Dichter, ein kleines Rad im Getriebe der Finanzgesetzgebung. Kein Mensch, kein Autor, er ist ein zen-bürokratisch inspiriertes Lyrikorgan. Ein anonymer Sprachdarm zur Ableitung von Sinn in die eine Richtung und zur Ausscheidung anspruchsvoll sinnfreier Poesie in die andere. Heute, sein Werk bezeugt es, ist er fast aller individuellen Identität ledig und steht kurz vor dem Austritt aus der destruktiven Wiederholungsschleife von Leben und Gewalt.

Mit der Frage nach den Vorteilen der Kleinunternehmerregelung treffen Inhalt und Form, Aussage und Ausgesagtes wieder unwillkürlich meisterlich zusammen. Die Rede von der besonderen Regelung der Umsatzsteuer für kleine Unternehmen bietet dem Dichter einen – fast möchte man sagen – idealen Gegenstand für eine lyrische Diktion, die sich erholsam absetzt vom gemeinen Geltungsstreben der Mainstream-Dichtung im 20. Jahrhundert. Während letztere wieder und wieder im differenzpoetischen Überbietungsbestreben die Topoi der Jahrtausende wiederkäut – Liebe, Schmerz, Natur, Weltverdruss –, wird hier unwillkürlich, aber doch treffend, anonym, und doch mit einer gewissen individuellen Note, auf neue Weise etwas Neues gesagt.

In einer Art Metalepse wird mit dem Thema Kleinunternehmertum aber nicht allein das lyrische Sprechen zum Thema gemacht. Auch der Autor stellt sich in seiner ungeschützten kleinbürgerlichen Kreatürlichkeit vor uns hin und bekennt – durch die Blume, aber deutlich wahrnehmbar: De me fabula narrat. Der Kleinunternehmer, das ist natürlich auch der leibhaftige Dichter, der hier – ein schlitzohriger Schelm – den reichen Dichterfürsten seinen bürokratischen Stinkefinger entgegenhält. Unaufdringlich, aber doch hörbar, tönt es aus den Versen: Selbst schuld, wenn ihr noch Umsatzsteuer zahlt. Hättet ihr auf der letzten Buchmesse nicht so großkotzig angegeben mit eurem Dichterstuss, wärt ihr schön bescheiden unter den 17.500 Euro geblieben, dann müsstet ihr heute auch keine Bundeswehreinsätze in Afghanistan mitfinanzieren und keine Lehrereinsätze in den Kampfzonen der deutschen Schulen. Ich als kleiner anonymer Bürodichter, ich brauch mir über Steuern keine Gedanken machen. Ich bin der wahre kleine Unternehmer, der euch feisten angesagten Übernehmern zeigt, wie es geht. Vieles spricht dafür, dass sich im Gedicht vom "kleinen Unternehmer" ein Dichtertyp der neuen Generation ankündigt. Ein postpoetischer Sprachbeschwörer, der die lyrische Diktion des neuen Jahrtausends verkündet. Während die Auflagen der tradierten Dichtung in den letzten Jahren immer weiter zurückgingen, wird die sinnfreie Poesie aus dem Bürokratendarm auflagenstark gedruckt. Während die tradierte Lyrik oft eher verschenkt als rezipiert und rezitiert wird, findet die neue anonyme Poesie aufmerksame Leser. Ja, und wurde die tradierte hermetische Dichtung oft noch eher auswendig gelernt als verstanden, so provoziert die neue Sinnferne einen Eros der Sinnsuche, den sonst nur die Bedienungsanleitungen von Flachbildschirmen entfachen können. Und trotzdem überbietet das oben abgedruckte Kunstwerk die hermetische Poesie auch noch in der Widerständigkeit, die es dem totalitären Zugriff des Verstehens entgegensetzt. Wo die Hermetik mit ihren Metaphern und Isotopiebrüchen sich doch als allzu sinnvoll zu erkennen gab, da strecken hier selbst die abgebrühtesten Interpreten nach Stunden und Jahren der Lektüre die hermeneutischen Waffen.

Erhaben steht sie vor uns, die Ode "an den kleinen Unternehmer", und lässt uns erzittern in einem Zwischenreich der distanzgebietenden Ergriffenheit. So wie es in der Tradition nur die ganz große Kunst konnte, so werden wir hier berührt vom Werk eines selbstbewusst selbstlosen lyrischen Kleinunternehmers, vor dem wir uns in Ehrfurcht verneigen.

Note: 1-

Kategorie: Allgemein



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Briefe an die Leser

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Mitgehört im Zug

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Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

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