Müters Söhne #10
Talente
"Mama, guck mal, was ich kann"
Thorben ist 5 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 12 und 16 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich musste Thorben beim Supertalent anmelden. Denn mein Sohn ist ein sehr guter Stimmenimitator. Er hat schon Stimmen imitiert, bevor er grammatisch einwandfrei nach mehr Bildschirmzeit auf dem iPad fragen konnte. Bereits sein erster Schrei nach der Entbindung klang wie ein "Riff" von Christina Aguilera. Aber seine letzte Imitation hat alles zuvor Dagewesene in den Schatten gestellt. Eine unerwartete, aber dennoch vertraute, sonore Stimme erreichte mich aus Thorbens Spielzimmer: "Was wir brauchen, ist eine geistig-moralische Wende." Eine staatsmännische Gänsehaut ergriff mich. Sprach da mein fünfjähriger Sohn oder Helmut Kohl? Ich konnte mir nicht sicher sein.
Ich weiß zwar nicht, warum Thorben täuschend echt den Wendekanzler imitieren kann. Aber unmissverständlich gehört diese Gabe auf die große Fernsehbühne. Mein Mann sieht das anders. Er sagt, Thorben klinge überhaupt nicht wie Helmut Kohl, sondern wenn überhaupt wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Ich finde, wenn Thorbens Dialekt sich pfälzisch einfärbt, fällt die Mauer ein zweites Mal. Aber reicht das, um zum Supertalent 2025 gekürt zu werden? Es würde allenfalls reichen, um Ost- und Westdeutschland zu vereinen. Und diesmal wirklich.
Auch ansonsten erlebe ich Thorben als ziemlichen Tausendsassa. Keinen Satz höre ich von ihm häufiger als "Mama, guck mal, was ich kann!" Dass Thorben so vielseitig talentiert ist, hat er von mir. Ich singe zum Beispiel sehr, sehr gut. Sowohl hoch als auch tief. In den ersten Staffeln von Deutschland sucht den Superstar und Popstars wollte aber niemand etwas davon wissen. Auch meine Eltern verkannten mein Talent. Genauso wie es mein Mann heute bei Thorben tut. Bis heute glaube ich, mein Leben wäre anders verlaufen, wenn meine Eltern mir erlaubt hätten, in der Mini Playback Show das Lied Sexual Healing zu singen. Blühende Landschaften hätten mich erwartet. Stattdessen bekam ich einen vertrockneten Rollrasen.
Thorben gibt mir die Hoffnung, dass das Gras mit etwas Pflege wieder grün wird. Ich habe in meinem Umfeld auch viel Kritik geerntet. Ich würde die erstbeste Möglichkeit ergreifen, um meinen fünfjährigen Sohn vor eine Fernsehkamera zu drängen. Das ist leider falsch. Es war bei weitem nicht die erstbeste Möglichkeit. Bisher habe ich Thorben bei Klein gegen Groß, Wetten, Dass..? und sogar bei Goodbye Deutschland angemeldet. Er wurde überall abgelehnt.
Seine Zusage fürs Supertalent-Casting ließ nicht lange auf sich warten. Nun lausche ich jeden Tag andächtig, wie Thorben Helmut Kohls erste Regierungserklärung aus dem Jahr 1982 wiedergibt. "Das ist mega geil", höre ich plötzlich Dieter Bohlens Stimme in meinem Ohr. Ich deute das als gutes Omen. Es ist gut, wenn die eigene innere Stimme gleichzeitig Jurymitglied beim Supertalent ist. Aber vielleicht war es auch Thorben. Er kann jetzt nämlich auch den Poptitan imitieren.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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