Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (66)
Das Zoo-Café war gut besetzt und Gernolf noch nicht da, obwohl Kurtchen, weil er nicht hatte warten wollen, sich mit Absicht so verzettelt hatte, daß er schon reichlich fünf Minuten Verspätung herausgetrödelt hatte, als er um die Ecke bog, einen Blick auf die Uhr an der U-Bahn-Haltestelle warf und erleichtert registrierte, daß noch ein Außentisch frei war. Es war noch immer altweibersommerlich warm, und Kurtchen mochte eigentlich nur dann auswärts frühstücken, wenn er es draußen tun konnte, es drinnen zu tun, war ihm unangenehm, er wußte gar nicht recht, warum; wahrscheinlich weil es für Gesellschaft, für öffentliche Existenz zur Frühstückszeit (wann immer die im Einzelfall sein mochte) zu früh war und das Sitzen vor einem Lokal eine Distanz ausdrückte, den Unwillen, vor dem ersten Kaffee schon wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Allein deshalb fand Kurtchen es idiotisch, im November oder März unter Heizpilzen zu sitzen, derart den freien Frischluftraum unters Regiment des traurig kollektiven Innen zu zwingen; Distanzlosigkeit, wohin man sah.
Als er saß und einen Latte Macchiato geordert hatte (unbedingt unbekümmert darum, ob das aus irgendwelchen trendfeuilletonistischen Gründen nun angängig war oder nicht, aber wozu war er Klempner, was gingen ihn da Trends an), überlegte er sich einen Gesichtsausdruck, nicht wie einer dreinzuschauen, dem es etwas ausmacht, allein vorm Café zu sitzen, einigte sich rasch auf den Müden Nachtschwärmer, faltete die Hände überm Bauch und versuchte, einfach nur dazusitzen, ohne sich dafür zu genieren.
Am Tisch vor ihm Richtung Straße saß eine hörbar Schweizer Kleinfamilie. Der Sohn mochte neun, die Tochter elf oder zwölf sein, und Kurtchen brauchte eine Weile, bis er begriff, was ihn an diesem Tableau so faszinierte: Das Töchterchen war ein ausgesprochen hübsches Kind, genauer: eine Schönheit, was als Begriff auf das sichtlich vorpubertäre Gör (in der Schweiz ging ja immer alles so langsam) noch gar nicht anwendbar sein sollte, es aber trotzdem war.
Das zweite Faszinosum war, daß ihm, Kurtchen, das überhaupt auffiel, er war nämlich nicht pervers (jedenfalls nicht in dieser Hinsicht, seine Perversionen erschöpften sich in der Vorliebe für Spiegelei auf Nutellabrot und dem Drang, sich mit dem Kuli im Ohr zu kratzen, und das hatte er sich sogar abgewöhnt), und es mußte, dachte er und tunkte den Beilagenkeks in den Milchschaum, wohl so sein, daß er sich, sentimental, wie er war, soeben als Gleichaltrigen imaginierte, der mit einem Erziehungsberechtigten vor dem Café auf seinen Kakao wartete und zum erstenmal die Verwirrung der Gefühle schmeckte, die kaum einmal wieder so grundsätzlich, weil zutiefst rätselhaft, unschuldig und ergebnislos in Erscheinung treten würde. Und drittens wunderte sich Kurtchen, wo das Mädchen das her hatte, von seinen Eltern jedenfalls nicht, aber schon rein gar nicht, es mußte sich um ein Adoptivkind handeln. (wird fortgesetzt)
◀ | Die besten Szenen aus 900 Jahren "Wetten, dass..?" mit Thomas Gottschalk | Aus dem aktuellen Heft: Land der Ideen | ▶ |
Newstickereintrag versenden…