Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (63)
Kurtchen sah Gernolfs Nummer im Display und war sofort erleichtert, denn der Anruf des Freundes entband ihn, Kurtchen, von weiteren Grübeleien, wie mit Gernolf und dem "Ausflug", der ihm schon jetzt viel zu kompliziert vorkam, als daß er nicht darüber nachgedacht hätte, seine Zusage wieder rückgängig zu machen, zu verfahren sei. Er kam allerdings gar nicht dazu, das Thema zur Sprache zu bringen, Gernolf war viel zu aufgeregt.
"Hast du das gelesen? Hast du das gesehen?" schrie er geradezu, ohne den Umweg über eine wie auch immer freundschaftliche Begrüßung zu nehmen. "Ich muß sterben, paß auf", Kurtchen hörte Zeitungspapier rascheln. "Eine ergreifende Familien- und Liebesgeschichte im Deutschland der 50er und 60er Jahre", deklamierte Gernolf, was im Verbund mit dem Rascheln dafür sorgte, daß Kurtchen unterstellte, es müsse sich um ein Zitat handeln. "Die Geschwister Ella und Thomas wachsen im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Sie flüchten sich in eine eigene Welt, doch vor den Zugriffen ihrer Umgebung finden sie keinen Schutz. Käthe", Gernolfs Stimme gewann Höhe und klang gepreßt, als fehle es da oben an Sauerstoff, "vertritt leidenschaftlich die Ideale eines neuen, besseren Deutschland. Den Preis haben ihre Kinder zu zahlen", Gernolf holte Luft, das Gepreßte wich einem Leiern, als schüttele Gernolf beim Reden in verächtlicher Resignation den Kopf, "Als 1961 die Mauer errichtet wird, kann niemand ihre Tragödie aufhalten, die Tragödie der Mauer oder was?", das schien nun wieder Gernolf selbst zu sein, "aaaaah, du, das ist so scheußlich, das ist heute Literatur, ich muß auf der Stelle kotzen", und mit diesem Hinweis ließ Gernolf den Hörer fallen, und dann hörte Kurtchen drei Sekunden nichts, dann klang es, als falle eine Tür ins Schloß.
Kurtchen legte, nachdem die Stille andauerte, auf, weil das die etwas undurchsichtige, vielleicht auch einfach spastische Szene ins eventuell Filmreife hob wie auch Kurtchen dahingehend salvierte, er lasse sich dann eben doch nicht jeden Blödsinn gefallen.
Allerdings stand er jetzt, immer noch im Pyjama, nicht wenig ziellos herum, weil ja anzunehmen war, daß Gernolf sich seinerseits sein, Kurtchens, Auflegen nicht gefallen lassen würde und gleich noch einmal anriefe, eventuell dann auch Aufklärung zu leisten, was es jetzt mit Käthe, ihren Kindern und dem besseren Deutschland auf sich hatte. Kurtchen fiel ein, daß er noch immer nicht auf Petras Kurznachricht geantwortet hatte, mußte er denn noch? Oder war das mit Freds Anruf wiederum erledigt? Kurtchen begann, herumfliegende Wäsche vom Boden zu klauben, um, solange die Situation so verwirrend blieb, wie sie nun einmal war, wenigstens in dieser Hinsicht wieder Ordnung in die Dinge zu bekommen.
Das Telefon klingelte, Kurtchen hatte jetzt einen halben Haufen Unterwäsche unterm Arm.
"Aber sonst geht’s dir gut", sagte Gernolf vorwurfsvoll.
"Es geht", versetzte Kurtchen. "Auch dir einen wunderschönen guten Morgen."
"Versteht sich", sagte Gernolf. "Entschuldige, aber das war ein Notfall."
"Klar. Mußtest halt kotzen", riet Kurtchen.
"Aber wie", bestätigte Gernolf. (wird fortgesetzt)
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