Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (6)
Überhaupt, überlegte Kurtchen, als er an der Fußgängerampel warten mußte (oder, genauer, warten wollte, um sich ganz auf den Gedanken zu konzentrieren, ein Kraftfahrzeug war gar nicht in Sicht), wurde sein Leben mit wachsender Zahl der Jahre zu einem Projekt ex negativo: Er wußte immer besser, was er nicht wollte, was er ablehnte, worum er einen Bogen machen würde; er zweifelte aber, daß das, was irgendwann zwangsläufig übrigblieb, darum schon einem Lebensideal gleichkäme. Kurtchen, als die Ampel auf Grün gesprungen war und er, (einem Kindheitsreflex folgend) mit Seitenblick nach links und rechts, die Straße überquerte, erinnerte sich an seinen alten Freund Gernolf, einen attraktiven Tagedieb und bislang erfolglosen Schriftsteller, dessen Mißerfolgsgeheimnis eine solide Dauerschreibblockade war und der sich mit einem ähnlichen Problem herumschlug: „Ich weiß genau, was in meinem Roman“, denn drunter tat es Gernolf nicht, „nicht vorkommen soll: Der 11. September. Der Zweite Weltkrieg. Kommunistische Geheimdienste. Ein Dutzend Popkulturzitate als Vorspann. Überhaupt diese ganze Verweis- und Zitat- und Anspielungsscheiße, diese Wichsvorlage für Ex-Studenten und FAZ-Leser. Leitmotive, wie ich das hasse! Thomas Mann, dieser Spießer! Werde glöcklich, du gutes Kend, zehnmal, damit sich der Proseminarist vor Forscherglück in die Buchs spritzen kann! Brockhaus-Literatur! Borges, ich könnte kotzen! Andererseits“, und Kurtchen erinnerte sich präzis, wie Gernolfs Ausdruck etwas geradezu Verzweifeltes angenommen hatte, „darf es eben auch kein Popscheiß sein. Dieses absichtsvolle Klimpern auf der Was-weiß-denn-ich-schon-Klaviatur. Dieses rotzige Bestehen auf dem halben als dem ganzen Ich. Flott selbstzweifelnde Ich-Erzähler mit Alkoholproblemen in der Großstadt. Diese Anbiederung an die Fernsehkinder. Himmel, nein.“ Sie hatten noch eine Flasche Obstler bestellt und eine Weile geschwiegen, beide ihrem Uuuäääh-Gefühl nachhängend, und es war noch ein sehr pathetischer, im Verlauf sogar lauter Abend geworden; und nicht ohne Wehmut überlegte Kurtchen, wie lange so ein Hausverbot eigentlich Gültigkeit besaß. (wird fortgesetzt)
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