Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Wir sind Papst
Man mußte der ARD direkt dankbar sein, daß sie einen, gegen jede Gewohnheit, am „Tatort“-Sonntagabend aus dem Haus trieb und man, statt im Fernseh den Blödmann Schweiger, im Kino den sehr guten chilenischen Spielfilm "¡No!" sah, der von einem Jungwerber handelt, der die Fernsehkampagne der Anti-Pinochet-Opposition orchestriert, mit der sie völlig überraschend das Referendum von 1988 (ja oder nein zu acht Jahren mehr Pinochet) gewann. Der Film besteht zu einem Gutteil aus den originalen Spots von damals, auch denen der Faschisten, und in einem zeigen sie Papst Wojtyła, wie er Pinochet besucht und den Folterer als Vater Chiles o.s.ä. empfiehlt; und es war ein schöner Einfall des Weltgeistes, daß, während im Kino das katholische Pack sich mit dem faschistischen verbrüderte, vor dem Kino die 24/7-Papstwahlberichterstattung noch Restgedanken der naiven Art, man lebe in einem säkularen, eventuell sogar aufgeklärten Staat, pulverisierte.
Schön, es hat auf der Welt 1,2 Milliarden Katholiken, und wenn ein Sechstel der Menschheit ein neues sog. geistliches Oberhaupt bekommt, mag das eine Nachricht im Vermischten wert sein. Das Geböller und Geballer aber, gerade auch aus öffentlich-rechtlichen Rohren und denen der Qualitätspresse: Was ein Konklave ist, wo das Konklave ist, wie lange es früher gedauert hat, wie lange es heute dauert – ließ in der völlig fehlenden Reserve dem „gesamtkatholischen Unfug“ (Henscheid) gegenüber durchscheinen, wie hochwillkommen auch diese allerälteste Dummacherei und Ablenkung von Not und hausgemachtem Elend noch immer ist, nein: schon wieder ist. Denn zu den Bildern einer Frau, die in Rio mit Holzkreuz und auf Knien kilometerweit eine Treppe hochrutscht, um derart pilgernd die Gunst eines Herrgotts zu erwirken, der nichts gegen Städte hat, in denen sich Villenviertel und Favelas gegenseitig bedingen, wäre dem Fernsehen der DDR sicher nicht der treudoof-„neutrale“ Berichtston des ZDF-Reporters eingefallen, der den ganz und gar nicht stattfindenden Ausgang des Menschen aus seiner fremdverschuldeten Unmündigkeit nur allzu willig als Folklore verkauft.
"… also ein fast vollständiges Beherrschtsein des Menschen von der ihm fremd gegenüberstehnden, unverstandnen äußern Natur, das sich widerspiegelt in den kindischen religiösen Vorstellungen." Engels, 1884
Mag sein, der neue Papst hat sich unter Argentiniens Junta nichts zuschulden kommen lassen, mag auch sein, daß er Bus fährt und sich um die Mühseligen und Beladenen kümmert, die dem katholischen Überbau bislang eher schnurz gewesen sind. Wahrscheinlicher ist, daß die Armen am Ende auch dieses Pontifikats so arm sind wie zuvor und daß am Ende eines elenden Lebens kein Herrgott wartet, sie dafür schadlos zu halten. Ein Vierteljahrhundert ist die neue, gesamtfreiheitliche Weltordnung bald alt, und ihre Fernsehnachrichten bestehen aus Papstnews und Börsenkursen. Was immer noch „Fortschritt“ ist und sein kann: damit wäre anzufangen.
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