Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Weniger ist mehr
In 26 Jahren gehe ich in Rente, und wenn ich überlege, wie nah mir die bereits verflossenen 26 Jahre sind, läßt sich mein Ruhestand also absehen. Richtig in Rente gehen werde ich natürlich nicht, weil ich das weder muß noch will, noch überhaupt kann; aber wenn ich nominell Rentner bin, werde ich umgeben sein von sehr vielen anderen Rentnern, für deren Rente, liest man, nur sehr wenige junge Menschen aufzukommen haben, weshalb eine demographische Katastrophe auf uns zuhält.
Daß das alles vielleicht gar nicht stimmt, oder nicht so vollständig stimmt, wie uns das Medialgewerbe erzählt, ist bislang mehr eine Ahnung gewesen, denn schließlich, so mein Gedanke, verursachen weniger Menschen auch weniger Kosten für Infrastruktur und Soziales, während die Alten zwar immer älter werden, aber auch immer länger immer gesünder sind und, bevor es dann vielleicht doch noch ins Pflegeheim geht, noch zwanzig Jahre konsumierend den Standort füttern. Jetzt habe ich meine Ahnung schriftlich, wenn auch nur verschämt im Wissensteil der Morgenzeitung, wo von einer Studie des Max-Planck-Instituts in Rostock berichtet wird: „Zwar sinke mit zunehmendem Alter die Arbeitskraft des einzelnen, eine längere und zielgerechtere Ausbildung sowie Weiterbildungen könnten mittelfristig aber sogar die Produktivität erhöhen, prognostizieren die Demographieforscher … Weil die Menschen länger leben und weniger Kinder bekommen, können sie ihre Zöglinge auch länger finanziell unterstützen oder es sich selbst im Alter gut gehen lassen und damit die Wirtschaft ankurbeln. Zudem falle das Erbe für den einzelnen üppiger aus, schlicht weil es zwischen weniger Kindern aufgeteilt werden müsse. Und weniger Menschen in Deutschland schonen nebenbei auch die Umwelt und belasten sie geringer mit Kohlendioxid und energieaufwendig produzierten Gütern.“ Usw.
„Liebling, die Deutschen sterben aus! / Das kann man doch nicht einfach so mitansehn. / Da muß ein echter Mann doch seinen Mann stehn! / Komm gib mir deine Hand, / und denk ans Vaterland, / sei lieb und zieh den Fernsehstecker raus: / Liebling, die Deutschen sterben aus.“ Carrell, 1980
Angenommen nun, es gäbe so etwas wie eine Demographielüge oder, weniger krawallig, ein Interesse an der Herstellung der Überzeugung, es müsse wieder mehr gezeugt werden: was wäre das für eines? Ein, erstens, völkisches, denn die Mühen, die Frauen zum Kinderkriegen zu bewegen, zielen ja nicht auf Fatma oder Ayşe, die weißgott genug Bälger haben; ein, zweitens, klassenmäßiges (und mit dem ersten freilich eng verwandtes), denn es sind die Gymnasiastinnen, die keine Kinder kriegen, nicht die Hauptschülerinnen; und ein drittes, das etwas weniger offen zutage liegt und darum mein liebstes ist. Schon jetzt klagt die Wirtschaft über Fachkräftemangel, und es wird noch so weit kommen, daß die Arbeitslosigkeit verschwindet, weil einfach keiner mehr da ist, der den Arbeitslosen geben könnte. Damit Arbeit billig bleiben kann, ist aber – Marktwirtschaft – ein Überangebot an Arbeit nötig; schrumpft das Angebot, wird Arbeit teurer. (Es ist dies der Hauptgrund dafür, daß es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, von dem eins bequem leben könnte, nie etwas werden wird. Derlei verdirbt die Preise.) Ideal für einen Standort, dessen Boom sich der Tatsache verdankt, daß die Reallöhne seit zwei Jahrzehnten sinken, ist ein Überangebot an Arbeit, ist die Marxsche „Reservearmee“. Und deshalb darf, wenn es nach dem BDI geht, Deutschland nicht schrumpfen, auch wenn das vielleicht ganz vernünftig ist.
Und jetzt setz’ ich mich auf den Balkon und lasse mich von der Septembersonne wärmen, um mein Rentnerdasein vorzuschmecken, das, wenn alles gut geht, von ein paar Millionen Geländewagenfahrern weniger behelligt werden wird. Meinen Segen hat’s.
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