Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Payback
Mit meinem Alter, sagt der liebe (und jüngere) Kollege L. beim Bier, hätte ich immer schon kokettiert, und da ich ja nun zu alt bin, um mich noch großartig zu ändern, will ich gern mitteilen, daß mein Kurzzeitgedächtnis immer schlechter wird, ich mich an früher aber so glasklar erinnere wie der typische Alzheimerpatient. Als ich gestern im Morgenblatt auf einer ganzen langen Seite las, schuld an dem ewigen Gemetzele in den USA seien nicht sowohl die laschen Waffengesetze als „die Amerikaner“ und ihr nationalcharakterlicher Hang zur Gewalt, erinnerte ich mich sofort an ein irgendwann enstorgtes Buch, das ich mit vermutlich siebzehn im Regal hatte und dessen vollständiger Titel lautete: „Ami go home. Plädoyer für den Abschied von einem gewalttätigen Land“. Es stammte von dem Journalisten Rolf Winter (u.a. „Stern“ und „Geo“), dessen einschlägigen Bestsellern man vorwarf, „plumpen Antiamerikanismus zu verbreiten“ (Wikipedia), u.a. durch den Vergleich von Indianermord und Holocaust.
Ist Winter nun rehabilitiert? Was der Korrespondent im Morgenblatt an Belegen wider Amerika versammelte, kam mir jedenfalls bekannt vor: das rücksichtslose Vorantreiben der Great Frontier, die Massaker an Ureinwohnern und Büffelherden, der „Lokalismus“ als die „vor allem im amerikanischen Westen immer noch weitverbreitete Ansicht, daß die Leute an einem bestimmten Ort ihre Angelegenheiten alleine regeln sollten, so wie sie es dort für richtig halten, ohne daß irgendjemand von ferne hineinredet“, von Madrid aus zum Beispiel – doch wir schweifen ab. Denn bestritten sei nicht, daß es Nationalcharaktere gibt: In Frankreich halten sie bei Streiks eher zu den Streikenden, in Deutschland eher zum Kapital, in Italien lassen selbst Beamte fünfe gerade sein, in der Schweiz tun das nicht mal Nichtbeamte, und in den USA, mindestens abseits der Küsten, ist die Neigung verbreitet, im Staat eher den Einmischer als den Hausvater zu sehen, weil der Staat, als er sich formte, lange Zeit weit weg war und nie der Leviathan geworden ist, bei dem die Leut’ im eigenen Interesse ihre Knarren abliefern. „,Freie Menschen“, zitiert das Morgenblatt Donald Rumsfeld, „haben die Freiheit, böse Dinge zu tun.’ Am Wochenende tat Stephen Paddock in Las Vegas genau das.“
„Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Lichtenberg, um 1780
Ob Stephan Paddock nun ein Lokalist war, wissen wir nicht, er hat auch nicht auf Indianer oder Büffel geschossen. Er war einer der autoritären Charaktere, die, wie wir seit Adornos Untersuchung wissen, auch in einem staatsskeptischen Land wie den USA nicht unbedingt in der Minderheit sind und die dort aber unbeschränkten Zugang zu Schnellfeuerwaffen haben. Daran mögen die Amerikaner (m/w) insoweit schuld sein, als sie Politiker wählen, die das Recht auf Waffenbesitz nicht beschränken; daß die Amerikaner – ursprünglich ja nichts weiter als von der Leine gelassene Europäer – unausrottbar gewalttätig wären, klingt trotzdem komisch, vergegenwärtigt man sich die „gräßliche Kette von menschlichen Räubereien und Erdauspressungen“, als die Theodor Lessing 1926 die Menschheitsgeschichte beschrieb, ohne von Auschwitz, diesem bösen Ding der unfreien Menschen, wissen zu können, aber doch kein Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrem zutiefst gestörten Verhältnis zur Gewalt sowenig begonnen haben wie den zweiten.
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