Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Ich ist was anderes
Karl Lagerfeld, das wissen wir jetzt auch, haßt Selfies. „Ich hasse Selfies“, soll er im Januar der New York Times versichert haben, um jetzt zu präzisieren: „Ich mache keine Selfies. Aber andere Leute machen das, und sie alle wollen Selfies mit mir machen. Aber Gott sei Dank ist da mein Assistent Sébastien. Er ist fies zu den Leuten auf der Straße, fies und rüde. Ich bin ja eher ein netter Mensch.“ Der Assistent ist ehemaliger Boxer und laut Boulevard „bekannt dafür, nicht lange zu fackeln“ (t-online.de).
So soll es sein.
„Mit Tottenham und Arsenal verbieten zwei weitere Vereine [der englischen Premier League] die sogenannten Selfie-Sticks in ihren Stadien. Die ausziehbaren Stöcke, die von immer mehr Touristen und Fans genutzt werden, helfen beim Fotografieren der eigenen Person. Die Vereine begründen das Verbot damit, daß die Stöcke als Waffen eingesetzt werden können“ (faszination-fankurve.de), wo nicht damit, daß man das schöne Eintrittsgeld doch nicht bezahlt, damit hinterher das Internet weiß, daß man bei Tottenham vs Arsenal im Stadion war.
Gut dem Dinge.
In den USA haben mehrere große Museen ihren Besuchern die Benutzung sogenannter Selfie-Sticks verboten. „Die Kunst könnte unter dem Fototrend leiden, heißt es“ („Spiegel online“). Auch in den Florentiner Uffizien kann man sich jetzt wieder auf das Gezeigte konzentrieren statt darauf, seine Fresse vorm Gezeigten zu verewigen.
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten.
„Die Dinge sich räumlich und menschlich ,näherzubringen’ ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.“ Benjamin, 1935
Das ist, versteht sich, alles Ressentiment, denn natürlich wollte man im Urlaub auch immer mal mit aufs Urlaubsfoto, wenn hinter einem die Akropolis war. Auf die Idee, mich vor Picassos „Guernica“ ablichten zu lassen, bin ich allerdings nicht einmal mit 17 gekommen, ja nicht einmal darauf, das Gemälde überhaupt zu fotografieren, weil ich, noch ein paar Jahre vor der Benjamin-Lektüre, immerhin die Ahnung hatte, es sei nicht nötig noch sinnvoll, mit dem Zug durch halb Europa zu fahren, nur um ein Artefakt viel schlechter zu reproduzieren als auf der Postkarte im Museumsshop oder, dümmer noch, durch Beigabe meines Aknegesichts zu verunstalten. Jeder, glaubte Beuys, ist ein Künstler, was sicher Schwachsinn ist, aber auch nicht schwachsinniger als die verwandte Annahme, jeder sei ein Kunstwerk, dessen funverzerrtes Adabei-Grinsen neben der Mona Lisa irgend etwas zu suchen habe. Laut sind die Klagen über die Kulturschändereien des Islamischen Staates, und zwar zu Recht, denn wenn er so weitermacht, sind im Mittleren Osten bald keine Kulturschätze mehr da, neben denen sich unterm Dauerfeuer des Seriellen zur Höchstform auflaufende Existenzen ihrer sog. Individualität versichern könnten. Die es primär halt gar nicht mehr gibt, sondern bloß noch als Abziehbild im Sozialnetzwerk.
Am Aachener Uniklinikum haben sie mittlerweile acht (!) Pflegekräfte entlassen müssen, die sich und wehrlose Notfallpatienten per Selfie verewigt haben. „Nach Informationen von Aachener Nachrichten und Aachener Zeitung sollen Patienten für die Aufnahmen geschminkt und die Bilder über Whatsapp verbreitet worden sein“ (Zeit.de). Je weniger es zu verewigen gibt, desto besinnungsloser wird’s getan. Gewinnen läßt sich dieser Wettlauf nicht.
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