Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Höher, schneller, teurer, toter
Da war man baff: Planeten, so jüngste, aufsehenerregende Forschungsergebnisse, sind allesamt rund und umkreisen Zentralgestirne. „Das muß jetzt alles schonungslos ans Licht“, so ein selbsternannter Weltraumexperte, „um das Vertrauen ins All wiederherzustellen.“
Auch der BRD-Spitzensport hat gedopt; potzteufel. Aber jede Krise ist auch eine Chance, wie die Morgenzeitung weiß: „Es gäbe viel zu bedenken und zu bereden. Der Wandel, der daraufhin einsetzen würde, wäre vermutlich ein tiefgreifender. Am Ende stünde wahrscheinlich ein Spitzensport, der weniger Medaillen hervorbringen würde, der aber wieder glaubhafter als gesellschaftliches Vorbild dienen könnte.“ Wahrscheinlich; wie immer, wenn die materielle Welt mit der Kraft der Gedanken aus den Angeln gehoben werden soll. Zur Klärung: In einer Welt, in der alles Ware und Konkurrenz ist, bietet der Spitzensportler seinen Körper und dessen Leistungsfähigkeit an. Je höher die Leistung, desto größer der Marktwert. Körper mit geringer Leistung sind auf diesem Markt von vornherein unverkäuflich, solche, deren Leistung wiederholt unter der Leistung vergleichbarer Körper liegen, nur schlecht, es sei denn, die fehlende Leistungsfähigkeit läßt sich ihrerseits (als sympathische/identifikatorisch fruchtbare: „Meister der Herzen“) verkaufen. „Warum steht der zweite immer als der erste Verlierer da?“ Weil man, bei gleichem Preis, immer den leistungsfähigeren Eierkocher nehmen wird, auch wenn der zweitbeste Eierkocher objektiv gut ist und tut, was er soll, Eier kochen.
Aber es gibt den besseren, und es ist das Movens, die raison d'être der Wettbewerbsgesellschaft, daß das Bessere der Feind des Guten sei und das wiederum Bessere der Feind des vormals Besseren. Kein Rasierapparat auf der Welt braucht mehr als zwei Klingen, gleichwohl gibt es Apparate mit vier und fünf. Es wird sie in der Zukunft mit sechs und sieben geben, weil der Markt, die Konkurrenz nach dem Neuen, dem Besseren verlangt. Analog ist nichts so uninteressant wie ein Weltrekord von vorgestern, weil das mediale Verwertungssystem ebenfalls streng nach Leistung und dem Schauwert auswählt, der sich nach Marktregeln bestimmt. (Auch Systemkonkurrenz, als es sie noch gab, war Marktkonkurrenz: Ein System muß sich verkaufen können, und sind nur zwei im Angebot, ist der zweite Platz tatsächlich nichts weiter als der eines Verlierers. DDR-Doping war, in Zweck und Methode, staatskapitalistisch.)
„man hat soviel barbarei, als zur aufrechterhaltung barbarischer zustände nötig ist.“ Brecht, 1939
Leistungssport ist (mindestens faktisch) ein Beruf, ein Beruf, der sich nicht länger als 20 Jahre ausüben läßt und der hohe Investitionen verlangt; zahlen sich diese Investitionen, weil man immer nur zweiter oder achter oder dreißigster (und jedenfalls nicht im Fernsehen) war, nicht aus, ist 20 Jahre später das Kapital (der Körper) verbraucht, ohne daß ein neuer Kapitalstock (ein Image, der Werbevertrag, ein Festgeldkonto) gebildet ist. Der Leistungssportler ist Humankapital, das zu Renditezwecken (durchaus auch symbolischen) vernutzt wird, und wie jedes Kapital hat es, mit der berühmten Stelle aus Marxens Hauptwerk, „einen Horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft: 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“
Oder halt des Leberversagens; und bevor sich hier was tiefgreifend wandelt, müßte erst ein anderer, noch viel tiefergreifender Wandel stattfinden. Der allerdings unwahrscheinlicher ist als eine Tour de France ohne gedopte Fahrer.
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