Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Ein bißchen Frieden
Im Alter noch mal neue Freunde, neue Freundinnen zu finden ist eine schöne Sache, gerade dann, wenn sie jahrelang sozusagen Tür an Tür mit uns gelebt haben.
Die Autorin und SZ-Kolumnistin Carolin Emcke, die neulich den Friedenspreis des deutschen Buchhandels gekriegt hat, habe ich allsamstäglich tapfer ignoriert, weil mir schien, einen Prantl in weiblich nicht auch noch zu benötigen; doch was habe ich da all die Zeit verpaßt! Denn gestern sah ich mal hinein, und es war nun wirklich heißer Scheiß: „Das ist vielleicht das einzig Gute an der Wahl in den USA: daß sie einen nötigt, neu nachzudenken, anderes zu lesen und Vertrautes kritisch zu befragen.“ Ich spürte förmlich, wie mich nach diesem Vorspann die Lust anfiel, neu nachzudenken und Vertrautes kritisch zu befragen, daß ich herauskäme aus meiner, hmpf, Komfortzone, angeleitet von einer, die mich gleich und gern durch ihre Bibliothek führt: „,Die Geschichte zeigt’, schreibt der italienische Philosoph Roberto Esposito in seinem Buch ,Person und menschliches Leben’, ,daß jedes kollektive Ereignis von einer gewissen Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet ist.’“ Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. „Daß Trump der nächste amerikanische Präsident werden könnte, erschien mir, allen Umfragen zum Trotz, so wahrscheinlich wie furchteinflößend. Auch der bittere Zorn, der nun wahlweise als Unmut einer objektiv vergessenen Arbeiterklasse, als Angst einer sich subjektiv als nicht mehr ausreichend abgesichert empfindenden Mittelschicht oder als objektiv-subjektiver Rassismus gelesen wird, schien mir keineswegs neu zu sein. Allen, die sich in den vergangenen Jahren auch nur ein bißchen außerhalb der urbanen Zentren der Vereinigten Staaten bewegt haben; allen, die mal mit hochdekorierten Veteranen gesprochen haben, die zwar in Afghanistan oder dem Irakkrieg kämpfen durften, aber mittlerweile unter den Autobahnbrücken in abgeranzten Zelten hausen müssen; allen, die mal in den vergangenen Jahren die de-industrialisierten Brachen und Ruinen von Detroit besucht haben oder die Straßenzüge um Las Vegas, in denen nach der Finanzkrise ein Haus neben dem anderen zur Zwangsversteigerung angeboten wurde, oder die auch nur die Essays von John Jeremiah Sullivan über die inneren Paradoxien Amerikas gelesen haben, konnte dieser Zorn nicht verborgen geblieben sein.“
„Wie eine Blume am Winter beginnt / so wie ein Feuer im eisigen Wind, / wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag. / Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind. / Ich singe als Antwort im Dunkel mein Lied / und hoffe, daß nichts geschieht.“ Meinunger, 1982
Und so erfahren wir, daß Carolin Emcke mit Veteranen gesprochen hat, in Detroit und Las Vegas gewesen ist und die Essays von John Jeremiah Sullivan kennt. Und, mit Degenhardts altem Senator zu klagen, was hat es gebracht? Gar nichts: „Aber das ändert alles nichts daran, daß mir, je länger die Wahl zurückliegt, mein eigenes Instrumentarium zum Deuten des Phänomens Trump immer unzulänglicher erscheint … Mir fehlen offensichtlich passende Begriffe, mir fehlt historisches Wissen, das mich über die eigene Ratlosigkeit hinwegtrösten könnte … Warum haben viele von denen, die wählen gegangen sind, scheinbar gegen ihre Interessen gestimmt?“ Oder wenigstens anscheinend? „Welche Rolle spielen Begriff und Selbstverständnis der sozialen Klasse in einem Land, das ansonsten eher bestreitet, daß es so etwas überhaupt noch gibt?“ Ganz anders als das eigene! „Wie sinnvoll ist es, eine soziale Klasse primär über Einkommen zu definieren – statt auch über Bildungsgrad oder seltener abgefragte Kategorien wie Selbstbewußtsein oder Stolz nachzudenken?“ Falls nicht das eine mit dem anderen doch irgendwie zu tun hat. „Wie verhalten sich die modischen Konzepte von Elite und Prekariat“, die, wem passende Begriffe und historisches Wissen nicht fehlen, auch einfach Klassenkampf nennen könnte, „wenn die Bedingungen von intellektueller oder kreativer Arbeit keineswegs mehr stabile Anstellungsverhältnisse oder Löhne generieren?“ Generieren, nie verkehrt.
„Hat eine Gerechtigkeitsdebatte wirklich Sinn, bei der beständig Verteilungsfragen gegen Artikulationschancen ausgespielt werden?“ Hä? Wer? Was? „Und hilft den sogenannten“, den sogenannten!, „Abgehängten wirklich eine Kritik am globalisierten Kapitalismus, die nur mehr im protektionistischen Nationalismus ihre Antwort sucht, anstatt viel genereller über die Zukunft der Arbeit im Zeitalter der digitalisierten Industrien nachzudenken?“ Oh, also doch noch Dath? Nee, bloß Bertelsmann: „Welche Qualifizierungsinitiativen wird es brauchen, damit die dramatischen Transformationen der Arbeit 4.0 sozial abgefedert werden können? Und nicht zuletzt“, ja, last but not least: „Wie unterscheidet sich das, was da Populismus oder Autoritarismus genannt wird, von einer faschistischen Bewegung? … Ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Aber sie diktieren mir die Lektüre für die nächsten Wochen.“
Es ist ein schöner Beruf, den die Carolin Emcke da hat: In der Welt herumfahren, Bücher lesen und dann die richtigen Fragen nicht und die falschen Fragen so gymnasial stellen, daß der liberalen Kundschaft, die die Antworten auf gar keinen Fall wissen will (und von dramatischen Transformationen auch immer zuletzt betroffen ist), der Samstagsspaziergang nicht vergeht. Daß für derlei windelweiches Gemurkse kostbares Altpapier verbraucht wird: das muß – für Frieden und Kapitalismus! – die Freundschaft aushalten.
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