Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Die Fahnen hoch
Für politische Berichterstattung ist das SZ-Magazin weder gedacht noch gemacht, aber was es sieht, das sieht es: „Die Nationalspieler sind glattdiszipliniert wie nie – das zeigt den riesigen Widerspruch zwischen dem verkommenen System Fußball und seinem ethischen Anspruch an die Profis.“ Während auf WM-Baustellen Sklaven sterben, Kindfußballer aus Lateinamerika nach Europa verhökert werden und es nach wie vor keine schwulen Fußballer gibt, ist die zentrale Frage, „ob Max Kruse, der Spaß daran hat, sein Glied mit dem Handy zu filmen, integer genug ist, um Teil der deutschen Nationalmannschaft zu sein“. Er ist es nicht.
„Ein System, das Woche für Woche sämtliche ethischen Standards unterschreitet, schraubt eben diese für seine Spieler immer noch ein Stückchen höher. Das kann, wenn es nicht so bigott wäre, auch mal lustig sein: Vor ein paar Jahren wurde Florian Kringe von Borussia Dortmund von seinem Trainer Thomas Doll ,wegen Disziplinlosigkeit’ für drei Tage gesperrt, weil er mit nacktem Oberkörper ein Buch gelesen hatte.“ Folgt der Hinweis auf die gute alte Zeit, als Netzer „zum Feiern übers Wochenende nach Las Vegas flog“ und die ’82er WM-Vorbereitung am Schluchsee bzw. eben „Schlucksee“ eher dem Ausflug eines Kegelvereins glich. Heute dagegen eine Konformität, die selbst dem konformen SZ-Magazinisten Haberl aufstößt: „Fast scheint es, als müßten die Spieler Teile ihrer Persönlichkeit opfern, damit der moralische Niedergang des durchkommerzialisierten Profifußballs bestmöglich verschleiert werden kann“, und je durchgeknallter und vulgärer alles wird, desto „tastender, vorsichtiger, verängstigter“ werden sie, „bald sagt keiner mehr was, ohne vorher seinen Berater um Erlaubnis gefragt zu haben“.
„Ein Hoch auf uns / auf dieses Leben“ Andreas Bourani*, 2014
Da sind wir, selten genug, mal mit allem einverstanden, erlauben uns aber, ein paar weitergehende, systemische Vermutungen anzustellen: Brutalität und Konformität zwei Seiten einer Medaille? Ruhe als erste Bürgerpflicht in der totalen Leistungsgesellschaft? Ein zwar neuerdings „buntes“ Kollektiv, dessen Führung aber Devianzen bestraft, die mit der Leistung wenig, mit der „Haltung“ alles zu tun haben? Einer Haltung, die den „sauberen“, „reinen“ Sportler als (faschistische) Leistungsmaschine abbildet (und eben nicht als Individuum, das evtl. Spaß daran hat, sein Glied mit dem Handy zu filmen)? Und hat dieser totale Sportler – ohne Meinung, loyal und gehorsam (der Trainer entscheidet), im wesentlichen austauschbar – nicht genau deshalb diese wunderbare „Vorbildfunktion“? Für uns, die wir, wenn auch etwas schlechter bezahlt, unter der gesellschaftlich gewünschten Glattdisziplinierung ebenso leiden und die wir uns darum ebenso großflächig zutätowieren, auf der so verzweifelten wie sinnlosen Suche nach einer Individualität, die bloß die des Gladiators oder der Hure sein kann, die Tag für Tag ihr Fleisch zu Markte tragen? Stand nicht neulich in der Zeitung, wie sehr die Angestellten der Fa. Schaeffler ihre Chefin lieben, die stahlkalte Milliardärin Schaeffler, und glauben wir das nicht auf der Stelle?
Ach was. Es ist ja nur Fußball; und die deutschen Turnierhymnen der jüngeren Vergangenheit sind natürlich keine faschistoide Verklärung des rauschhaft-entgrenzten, angstlosen, ewig jungen Siegerkollektivs, das keine Fragen stellt und sich nicht in Frage: „Gewinnen alles und gehn K.O. / Wir brechen auf, laß die Leinen los / Die Welt ist klein und wir sind groß / Und für uns bleibt das so / Für immer jung und zeitlos (…) // Immer da, ohne Rückspiegel / Keine Fragen, einfach mitziehn“ (Mark Forster) – bis alles in Scherben fällt. „Wir haben Flügel, schwör'n uns ewige Treue / Vergolden uns diesen Tag / Ein Leben lang ohne Reue / Vom ersten Schritt bis ins Grab“ (Andreas Bourani).
SA marschiert. Merkt das denn keiner?
*Preisträger 2016 der „Gesellschaft für deutsche Sprache“
◀ | TITANIC-Schmunzelecke zur EM | Nanu, CSU? | ▶ |
