Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Der ewige Kanzler
Aus meiner Lieblingsstadt Frankfurt am Main schreibt mir Freund und Kollege Jürgen Roth: „Lieber Stefan, Dein Nachruf auf Kohl ist, wie ich meine, nur weitgehend zutreffend; denn die ,geistig-moralische Wende’ hat es, ausgenommen Privat-TV, nie gegeben. (Und RTL etc. haben im Sinne des Schlagwortes gewiß nichts geistig-moralisch gewendet.) Das Geschwätz hat Kohl selbst nicht ernst genommen. Und die D-Mark-Sache und die Ausplünderung der DDR gehen vor allem auf das Konto vom schon damals faschistischen Schäuble und zumal der FDP. Kohl hat wiederholt geäußert, wie ihm die ,Wirtschaftskriecher’ der FDP mit ihrer Politik auf Zuruf der Deutschen Bank auf den Sack gingen, da gibt es Zitate genug. Kohl hat das halt gemacht, weil er sehr gern Kanzler war. Das war alles. Er war weder ein Staatsmann noch sonst was, er war ein gemütlicher Opportunist, der mir, verglichen mit Kommandeuren wie Schmidt und Schröder und dem Kapitalappendix Merkel, mittlerweile sogar ziemlich sympathisch ist. (…) Der wollte, daß sein Parteiladen finanziert wird und in seinem Sinne schnurrt und daß es keinen Zirkus mit dem Franzos’ gibt. Das war sein Programm. Alles andere ist linke Mystifikation. (…) Mir ist der Kohlsche Gemütlichkeitsmuff (das Leben als eine Art ewig geöffnete Schankwirtschaft) lieber als das Brandtsche ,Zusammen’-Gewichse. Und Kohl war keine ,kalte’ Figur, im Gegenteil, man hat an ihm tatsächlich wenigstens Spuren von Ehrlichkeit wahrgenommen. Stell Schröder und Merkel dagegen, diese Killer.“
„Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – (...) so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“ Kleist, 1810
Das Temperaturempfinden ist ja bekanntlich ein relatives, und daß Kohl heute Wärme bescheinigt werden kann, ist nichts als Ausdruck der kalten und immer kälteren Verhältnisse, die ihm folgten. „Kohl verkörperte, sobald er auf einem TITANIC-Cover auftauchte, in einer Gestalt sowohl die herrschenden Verhältnisse als auch die Kritik daran“, hat Hans Zippert dem Altkanzler in der „Welt“ nachgerufen. „Das wird ihm leider keiner mehr nachmachen“, und schon gar nicht die, die heute allein noch das (Kapital-)Verhältnis als solches sind. Kohl war, darüber weit hinaus, der Witz, für den ihn so viele gehalten haben, und wenn jeder (gute) Witz das Seine in Frage und auf den Kopf stellt – Trump, nebenbei, ist ein schlechter –, war Kohl sein eigener Widerspruch, ein dialektisches Verhältnis an und in sich, über dem Kabarett redundant werden mußte. Die Synthese KOHL, war sie von komischer Kunst erst einmal entdeckt und ausstaffiert, hatte mit geistig-moralischen Wenden, Spätgeburtsgnaden und Gorbatschow-ist-Goebbels-Allotria dann gar nichts mehr zu tun, weshalb die KOHL-Titel der TITANIC auch keine Satire waren, sondern ein Gottesdienst, in dem sich KOHL der Welt als Wahrheit offenbarte, als höchster Sinn im durchaus Gewöhnlichen. KOHL war das (auch klangmagisch plausible) Zauberwort, und daraus ergab sich alles.
Romantische Kunst mithin, und auch Eckhard Henscheids einschlägiges Meisterwerk, die ’85er Kohl-„Biographie einer Jugend“, führt nicht läppisch den täppischen Kohl vor, sondern verehrt die universalpoetische Chiffre (KOHL), und was daran zum Lachen ist, ist nicht der Mann als Witzfigur, sondern Novalis’ „ursprünglicher Sinn“, dessen Totalität nicht hindert, daß er – in und durch und wegen Kohl – einfach keinen ergibt; bloß immer KOHL, und das ist sehr viel besser als nichts. Wenn auch nicht viel mehr als nichts.
So liegt im alten Wort vom ewigen Kanzler eine tiefere Wahrheit, und wer will, mag es wider das Urteil meines Freundes für trostvoll halten, daß Kohls Mädchen Merkel ihm nicht nur in der Persistenz, sondern auch semantisch so freudig rudernd nacheifert.
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