Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Auf Wiedervorlage (2)
Ich muß nicht recht haben; ich möchte nicht einmal recht haben. Hätte ich nicht recht, dann wäre die Welt, wie sie ist, aufs beste eingerichtet und störten nur einige Unwuchten, Unklugheiten, Auswüchse; dann wären der IS und alle verwandten Klerikoterrorismen tatsächlich nur Ergebnis einer unverständlichen Vernageltheit, wie sie der Mensch, der vielen Sonne wegen, in gewissen Weltregionen einfach nicht ablegt.
84 Tote in Nizza, Blumen vor französischen Botschaften, und Merkel verspricht, der Kampf gegen den Terrorismus werde gewonnen. Das kann sie selbst sowenig glauben wie alle anderen: daß es nur darum geht, ein paar zehntausend Verrückten die Waffen abzunehmen. Daß hier ein Lkw in eine Menschenmenge gesteuert worden ist, setzt das, wie unbewußt immer, ins Bild: die Waffen, das sind die Mörder selbst, was aber heißt, niemand wird sie aufhalten.
Und wer sind sie? Fangen wir anders an: Wer sind sie nicht? Das ist einfach: Es sind kaum einmal Lehrer, Anwälte, Professorinnen. Jetzt also ein 31jähriger Lkw-Fahrer mit tunesischen Wurzeln und kleinkrimineller Vergangenheit, und die Feststellung, daß es meistens die aus den schlechteren Vierteln der Stadt sind, hat nichts mit dem Ressentiment zu tun, das den Bürger veranlaßt, seinen Nachwuchs auf die Oberstadt zu verpflichten, sondern mit Verhältnissen, die in blinder Sturheit Abgehängte produzieren, die gerne glauben, etwas Besseres als ihr Leben fänden sie überall. „Daß kein Riß durch die Gesellschaft gehen dürfe, davor warnen alle, die Kommentatoren und Wohlmeinenden und Abendlandbesitzer“, hieß es hier bei ganz ähnlicher, prototypischer Gelegenheit, „und es kommt ihnen sehr zupaß, lauthals einen Kulturkampf annoncieren können, wo es sich doch ganz offensichtlich ein kleines bißchen auch um Klassenkampf handeln, und zwar einen von der schmutzigen, bewußtlosen, religiös verdummten Sorte. ,Die drei Attentäter von Paris und ihre mutmaßliche Komplizin wurden in eine feindliche Welt aus Beton geboren. Aber sie hatten Chancen, ihren Platz im Leben zu finden’ (Süddeutsche) – so kann es gehen, und so geht es immer wieder, und kaum ist, man weiß nicht wie, eine Chance futsch, steht schon der Islam mit der Kalaschnikow bereit und gefährdet unsere Werteordnung.“
„Im Ernst: Ist der Reklamechef nicht noch widriger als der Mörder?“ Thea Sternheim, 1933
Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der Polizei aufgrund von „Gewalttaten“ (Spon) bekannt, muß mir nicht sympathisch sein, und ich will das, was er angerichtet hat, nicht entschuldigen; aber wer’s nicht verstehen will, der soll nicht von Siegen in Kämpfen faseln, die so lange nicht enden, wie deren Ursachen nicht beseitigt sind. Nichts geschieht ohne Grund, und Dummheit – und es macht mir Mal für Mal weniger Spaß, darauf herumzureiten – ist gesellschaftlich produziert, sie ist sogar gewollt, mindestens gebilligt da, wo, global wie lokal, zum Zentrum immer die Peripherie gehört, wo gleich hinter der „Prachtstraße“ und „glitzernden Strandpromenade“ sogar laut FAZ „die gesellschaftlichen Unterschiede sichtbar“ werden. „Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt. Der rechtsextreme Front National holte bei der Regionalwahl im vergangenen Jahr immerhin 45,2 Prozent der Stimmen“, und laut Le Monde ist Nizza mit Umgebung ein „Hotspot der islamistischen Radikalisation“. Und wenn Miosga in ihren Tagesthemen aufsagt: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: auch diesen Werten galt der Anschlag“, hat sie recht, aber ganz anders, als öffentlich-rechtliche Journalistenschulweisheit sich das vorstellen kann.
„Ein Gegenmittel gibt es nicht“, weiß da der FAZ.net-Kommentar (zu dem einem Leser aus dem friedlich-christlichen Abendland bereits wieder einfällt, man dürfe beim Terrorgrundsuchen „den Islam nicht ausklammern“): „Nicht alles, was töten kann, läßt sich verbieten.“ Aber was hier tötet, ließe sich abschaffen. Wenn man nur wollte.
Nachschrift: Diese Kolumne wurde am Freitag verfaßt. Am Samstag meldete FAZ.net erleichtert: „Attentäter war psychisch krank“. Er sei 2002 und 2004 „als Jugendlicher in Behandlung“ gewesen und laut Verwandtschaft ein „Mistkerl“ und faktisch „kein Moslem“. Sollte sich aufgrund dieser Umstände oder weiterer Ermittlungen erweisen, daß das Gesagte auf einer falschen Annahme beruht, hat der Autor – unter Hintanstellung der Frage, was wen zu einem massenmordenden Mistkerl macht – gern unrecht, stellt indes anheim, seinen Beitrag zur neuerlichen Wiedervornahme aufzuheben.
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