Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Ächz
Verständnis ist in Deutschland traditionell eine Sache der Richtung: Für rechts ist immer mehr Verständnis da als für links. Das war schon in der Weimarer Republik so, wo kommunistische Mörder schnurstracks im Zuchthaus oder auf dem Schafott, landeten, während rechte Mörder (deren Zahl,nebenbei, erheblich höher war) nach ein paar Wochen U-Haft wieder die Saalschlacht anführen durften. Desgleichen gibt es hügelweise Literatur zu der Frage, wie der gemeine deutsche Mann bloß dazu kam, Juden zu erschießen, während der einzige Grund für Bautzen, Mauer und Schießbefehl der Bolschewisten Bosheit war. Gewalt von rechts ist schlimm, kann (und wird) aber erklärt werden – die Arbeitslosigkeit, die Langeweile! –, Gewalt von links ist altböser Linksextremismus, Punkt.
„Die Republik ächzt hörbar unter dem Druck, Zehntausenden ein Dach über dem Kopf zu verschaffen“, lese ich in meiner extrem liberalen Morgenzeitung über einer Seite mit einschlägigen „Nachrichten aus einer Sommerwoche“. „Noch gelingt das irgendwie, aber es wird immer schwieriger“, denn das Boot ist fast voll, der Druck im Kessel steigt, es brodelt, wie lange kann es dauern, bis es knallt! Und da knallt es auch schon: „Die Lübecker Bürgerschaft stoppt den Verkauf eines Gebäudes zum Bau einer Erstaufnahmeeinrichtung. Vorher hatte es Proteste gegeben. Im Stadtteil Kücknitz war eine im Bau befindliche Unterkunft angezündet worden … Bei einem Bürgerforum in Heidelberg wird Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) ausgebuht und ausgepfiffen. Sie hatte in einem Interview gesagt, es sei für Anwohner einer örtlichen Notunterkunft offenbar ein Problem, daß ,nun plötzlich so viele dunkle Köpfe auftauchen’ … Mit Steinen bewerfen Jugendliche im sachsen-anhaltinischen Halberstadt Versorgungszelte für Asylsuchende“, und das ist natürlich nicht recht und furchtbar.
„Die Macht der Anwohner wächst mit jeder Stunde.“ Leo Fischer, 2011
Aber ächzt die Republik nicht hörbar unter dem Druck, Zehntausenden ein Dach über dem Kopf zu verschaffen? Und ist sie dabei nicht umfänglich hilfsbereit („Im niedersächsischen Northeim bieten Bürger nach einem Aufruf des Landkreises 100 Wohnungen für Flüchtlinge an“)? Und geraten nicht trotzdem z.B. „Asylbewerber aus Marokko und Syrien in der niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtung Bramsche aneinander“? Funktioniert nicht alles nur mehr irgendwie? Haben wir also nicht einen Notstand? Werden wir nicht überrannt? Sind wir nicht überfordert? Und darf, wer so ächzt, dann nicht auch wieder ein bißchen verstehen, daß „der Petitionsausschuß im (bayerischen) Landtag Anwohnern entgegengekommen (war), die gegen eine Gemeinschaftsunterkunft für 120 Asylbewerber protestiert hatten“?
Es geht nicht darum in Abrede zu stellen, daß es von Fall zu Fall schwierig und sehr schwierig sein kann, Dutzende oder Hunderte Menschen in kurzer Frist unterzubringen, und es gibt viele Beispiele von Engagement, Courage und Gastfreundschaft. Erstklassig aber auch eine Propaganda, die dem Schlimmen und Schlechten und Rechten einen guten Grund gibt, wenn nicht die ehrenamtliche Helferin der Caritas und der kommunale Flüchtlingsbeauftragte unter dem Druck ächzen, sondern die Anwohner, die am Fenster stehen und sich überfremdet fühlen. „Der Bürgermeister eines kleinen Orts in Niederbayern meldet sich krank. Täglich werden ihm neue Flüchtlinge zugewiesen, und er kann einfach nicht mehr. Ihm setzt der Streß zu, gegen viele Widerstände im Ort Notquartiere finden zu müssen.“
Heißt: Er kann das Ächzen nicht mehr hören.
◀ | Von der Leyen relativiert | So verteidigt Sigmar Gabriel seine Iranreise | ▶ |
Newstickereintrag versenden…