Fabian Lichters Economy Class
1984 – jetzt aber wirklich!
Auch wenn ein großer Teil der Bewohner dieses Landes inzwischen nachweislich anderes glaubt, sind hier in jüngster Zeit doch erschreckend wenige Bücher zensiert oder gar verboten worden. Schade eigentlich, schließlich gäbe es durchaus Bücher, die es allemal verdient hätten, wenn nicht verboten, so doch zumindest für lange, lange Zeit in die Mottenkiste gesperrt zu werden. George Orwells 1984 wäre unter ihnen nur der drängendste Fall. Spätestens seit Beginn des Internets in seiner jetzigen Form ist Orwells Roman in Foren und Netzwerken für jeden quergebildeten Problemaccount, der etwas auf sich hält, das Mittel der Wahl, um neben Lesekompetenz und historischem Sachverstand auch politische Weitsicht vorzugaukeln. Was irgendwo im Bermudadreieck der russischen Trolle, AfD-Sympathisanten und Querdenker auch wirklich zu gelingen scheint – Orwell ist hier jedenfalls Dauerbrenner. Die Methode ist dabei denkbar einfach und setzt lediglich so viel Scham- und Gedankenlosigkeit voraus, es für originell und geistreich zu halten, stets und immer zu betonen, dass sie sich nun aber wirklich erfüllt habe, die Orwellsche Prophezeiung. Ob Genderdebatte, Wetterbericht oder Lottozahlen – im Prinzip, so ist man sich unter Orwells Apologeten einig, leben wir schließlich längst in seinem 1984. Also Hashtag 1984 unter den Tagesschau-Link geballert und ab durch die Algorithmen gejagt. Galt das Buch lange als die Paradeschrift gegen totalitäre Systeme, wurde darin doch offensichtlich alles auch vage genug verhandelt, dass jeder Hans Dampf sich heute mit Orwell als Kämpfer gegen den Faschismus gerieren kann, ganz gleich, ob er nun gerade im Prepperkeller sitzt und Ravioli bunkert oder sich als Opfer eines Putschs von Ökoterroristen in der Résistance wähnt. Mehr Dystopie geht wirklich nicht.
◀ | Hitlersons Helfer | Aus Eugen Egners Püppchenstudio | ▶ |
Newstickereintrag versenden…