Dax Werners Debattenrückspiegel: KW 53
Liebe Leser_innen,
ich hoffe, ihr seid smooth und easy ins neue Jahr gerutscht! Bei mir war auf jeden Fall okay! Politische Beobachter wie Robin Alexander und ich wissen: Die Monate zwischen November und März verlaufen traditionell debattenarm. Deswegen habe ich für die heutige Ausgabe des Debattenrückspiegels eine Extrarunde gedreht und für euch die Neujahrsansprache eines hidden champions der föderal organisierten BRD analysiert: Es geht natürlich um Michael Kretschmers Neujahrsrede an seine sächsischen Mitbürgerinnen und Bürger! Wie würde Kretschmer das schwierige Genre der Videoansprache meistern? Welche Botschaften hat das ewige CDU-Talent für den Freistaat im Gepäck? Kriegen wir die Youtube-Fassung nach dieser Kolumne gemeinsam über 1000 Views gedrückt? Und kann sich Kretschmer zwei Wochen vor dem digitalen CDU-Parteitag noch mal in Stellung bringen? Finden wir's raus!
Das Video beginnt – natürlich – im schönen Freistaat Sachsen. Schon das Intro ist ein Ohren- und Augenschmaus. Eine zarte Slideshow-Animation mit herrlich statischen Fotos aus Chemnitz, der Jakobikirchturm nebst erleuchtetem Weihnachtsbaum, ein verspielter Slide-Zoom auf das Karl-Marx-Monument, dann ein selbstgebastelter Weihnachtsstern vor dem tiefblauen sächsischen Abendhimmel: Windows Movie Maker-Vibes at its best. Für die musikalische Untermalung sorgt – wie schon in Kretschmers Ansprache aus dem Vorjahr – eine Bearbeitung von "Fanfare for the Common Man" von Aaron Copland. Musikalischer Volltreffer: Copland schrieb die Fanfare unter dem Eindruck der Rede des US-amerikanischen Vizepräsidenten Henry A. Wallace, die dieser im Februar 1942 anlässlich des Kriegseintritts der USA hielt und worin dieser das Jahrhundert des Normalbürgers ausrief. History repeats itself, der Ton ist gesetzt.
Nach 15 Sekunden dann Auftritt Kretschmer: "Glück auf zum neuen Jahr mit Bildern aus Chemnitz!" Passend: Kretschmer hat sich für seine Ansprache den Zoom-Hintergrund "Abendstimmung in Sachsen" ausgesucht. Die Lage ist ernst, was also tun? Während die Elfenbein-Politiker_innen drüben in Berlin ihre Neujahrsreden gleich wieder mit dem Dauerbrenner-Thema Corona beginnen, hat der MP sein Ohr ganz nah am Gleisbett des sächsischen Emotionshaushalts und weiß: Dieses Chinavirus nervt jetzt mal langsam. Deswegen setzt er voll und ganz auf die Magie und Power des drohenden Kulturhauptstadtjahres 2025 in Chemnitz: "Das ist eine großartige Chance für diese faszinierende, moderne und vielfältige Stadt und für ganz Sachsen!" In der Fachliteratur nennt man diese originelle Variante bereits die Kretschmer-Eröffnung: Well played, Mister Ministerpräsident!
Was gleichzeitig auffällt: Kretschmer hat das Frisurenkapitel "Nuller Jahre Indieboy" mit nun 45 Jahren offenbar endgültig hinter sich gelassen. Im Video präsentiert er sich trotz aller Freude über das Kulturhautptstadtjahr mit ungewohnt strengem Styling, kaum Gel, wenig Volumen, dafür aber ein sehr klarer und definierter Seitenscheitel. Wer sich so vor die Webcam stellt, hat ein paar Anliegen in der Tasche. So auch der Sachsen-MP, sein erster Dank gilt dem Pflegepersonal, "den Frauen und Männern, die seit 10 Monaten mit der Flut der Coronafälle" umgehen: "Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!" Man spürt sehr deutlich, wie sehr ihm die Krankenhausmitarbeiter_innen am Herzen liegen, erst neulich hat er einem Krankenhaus ein paar Christstollen vorbeigebracht. Century of the Common Man eben. Aber er kann auch Klartext: "Lassen Sie sich impfen, sobald es möglich ist! Jede Impfung hilft!" Ein Appell, auf den Steinmeier und Merkel in ihren Neujahrsreden verzichtet haben, der in Sachsen aber notwendig scheint.
Gegen 2:25 dann mein persönliches Highlight des Videos: Kretschmer zählt auf, worauf wir uns 2021 wieder alles freuen können. "Auf unbeschwerte Begegnungen mit Musik und Tanz. Auf Besuche von Theatern, Museen und Freizeiteinrichtungen. Auf packende Sportveranstaltungen mit Publikum." Spannend, wie er hier nach "Sportveranstaltungen" eine kurze, trotzdem etwas zu lange Pause lässt, um dann "mit Publikum" dranzuhängen. Sollte so der Wunsch nach endlich wieder vollen Stadien besonders betont werden? Oder hat Kretschmer den Teleprompter beim Sprechen outperformed? Wir wissen es nicht, aber oft genug sind es genau diese Leerstellen, diese Uneindeutigkeiten, die einen guten Politiker erst zu einem sehr guten machen.
Dann wird's noch mal sehr konkret, Kretschmer greift den Kulturhauptstadtfaden vom Anfang noch einmal auf: "Und auf ausgelassene Freude, so wie hier in Chemnitz." Jeder Redenschreiber weiß: Das hier ist jetzt der Höhepunkt deines Skripts, jetzt muss es so richtig knallen. Und dann hast du sie entweder im Sack oder komplett verloren. Ich bin ehrlich, bei mir ist es ersteres. Denn Kretschmer, Medienprofi durch und durch, spielt (vermutlich mit einem Fußschalter außerhalb des Videoausschnitts?) eine MAZ ab, die uns noch einmal die unvergessenen Bilder der Juryentscheidung für Chemnitz als Kulturhauptstadt 2025 in Erinnerung ruft: Mindestens 20, wenn nicht 25 Menschen sitzen mit Europa-Fähnchen im Foyer des Rathauses Chemnitz vor einer Leinwand und jubeln so ekstatisch wie anno 2006, als Lahm gegen Costa Rica im Eröffnungsspiel netzte. Wer hier keine Träne verdrückt, hat nie geliebt.
Im Vertrieb würden wir sagen: Jetzt muss er den Sack zumachen. Nichts anderes macht Kretschmer dann auch: "Der eine oder die andere scheint auf dem Weg zur Entspannung die Nerven zu verlieren. Aber diese Pandemie lässt sich nicht mit Hektik oder Hysterie beenden. Wir brauchen Geduld und Willensstärke." Packend, wie er hier auch wirklich noch den letzten mit ins Boot holt. Und dann "Lassen Sie uns das Beste geben. Für unsere Heimat. Für Sachsen."
Seit Ende Oktober 2020 rätselt Polit-Deutschland, wen Annegret Kramp-Karrenbauer eigentlich genau meinte, als sie das Bewerbertrio um den CDU-Vorsitz vor einem möglichen vierten Überraschungskandidaten warnte. Mit seiner Neujahrsansprache auf Youtube (858 Views, 2.1.2021) hat Michael Kretschmer nun endlich die Antwort geliefert.
Bleibt zu Hause und gesund,
euer: Dax Werner
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