Dax Werners Debattenrückspiegel KW 18
Liebe Leser:innen,
erinnert ihr euch an den "Schmetterlingseffekt", diese in den Nullerjahren auffallend häufig für Hollywood-Filme ausgegrabene Idee der nichtlinearen Dynamik? Also die Frage, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann? Über dieses Rätsel musste ich bei meinen Spaziergängen diese Woche sehr oft nachdenken. Jedoch immer nur bis 9 Uhr abends, denn spätestens dann wurde ich auf dem Heimweg von den zweifach Geimpften der Stadt mit Kraftausdrücken beleidigt, die ich hier weder wiedergeben kann noch möchte. "Schaut mal, da läuft er wieder, der feine Herr Kolumnist" und "Na, veräppelst du wieder andere Männer im Internet?" waren zwischen höhnischen Gelächter und Raucherhusten noch die harmloseren Invektiven der bei Flaschenbier und Filterzigarette cornernden Best Ager, während ihre Seniorenhandys die menschenleeren Straßen mit Semino Rossi und Helene bestreamten. Finstere Blicke gaben mir wortlos zu verstehen: Diese Stadt hier, mein Junge, gehört ab Montag uns.
Anyway. Im Lichte der neuesten "sprachjakobinischen Cancel-Kampagne selbstgerechter Lifestyle-Grüner" – ich zitiere die aktuellen Wortneuschöpfungen dieser KW – muss die Frage nach dem Schmetterlingseffekt ja eigentlich so lauten: Kann ein technischer Fehler auf Jens Lehmanns Handy die endgültige Meinungsdiktatur in ganz Deutschland auslösen? What are the odds? Trotzdem sieht es derzeit genau danach aus. Deswegen schlage ich vor, dass wir die Geschehnisse rekonstruieren und den Weg in die Diktatur gleichsam reverse engineeren. Solange es eben noch geht.
Die Geschichte beginnt am Dienstagabend im Wohnzimmer des Ex-Nationaltorhüters. Auf Sky läuft irgendein Fußballspiel, in einer Werbepause grabbelt Lehmann mit Chipsfingern in den Ritzen des Rolf-Benz-Sofas (Modell MADE in Darbygrün) nach seinem Samsung Galaxy S III ("Die Büchse tut’s doch noch?"). Irgendwann fischt er das Ding triumphierend aus dem Eck, fast wie im Viertelfinale 2006 gegen die Gauchos. Er kann’s eben doch noch. Manchmal wünscht er sich diese irre Zeit irgendwie schon zurück. Dann schläft Lehmann zufrieden ein.
Als er aufwacht, ist er um drei Jobs ärmer. Am Abend zuvor hatte sich von seinem Samsung offenbar eine rassistische Whatsapp an den Kollegen Dennis Aogo gelöst. Lehmanns Versuch, das technische Missgeschick sachlich zu erklären ("In einer privaten Nachricht von meinem Handy an Dennis Aogo ist ein Eindruck entstanden …"), hat gegen die geballte power der linksliberalen Internetrambos nicht den Hauch einer Chance, für sie steht das Urteil mit der Anklage fest: Lehmann, der Nazi.
Und das ist das Stichwort für einen anderen lonesome wolf im Meinungskorridor der Angepassten: Die Lehmann-Meldung ist noch keine 5 Minuten auf dem Markt, da geht der Tübinger Grünen-OB Boris Palmer schon mit angelecktem Zeigefinger den Leitz-Ordner der von ihm persönlich verwalteten Facebook-Fake-Profile durch. Offenbar ist es Zeit für einen metasatirischen Kommentar nach dem Tübinger Modell. Nach kurzem Überlegen entscheidet er sich diesmal für "Nadine P.", diesen Account hat er schon lange nicht mehr benutzt. Was wäre, wenn er Nadine einen Augenzeugenbericht schreiben ließe, nach dem sich Aogo bereits selbst einmal in ähnlich rassistischer Weise geäußert hätte wie das Samsung-Telefon von Jens Lehmann? Würde das die Vorwürfe gegen Lehmann nicht entkräften? Weil details everything sind, lässt Palmer diese Episode am Strand von Mallorca spielen. Sommer, Sonne, eben all das, was den Menschen da draußen gerade fehlt. Das moralinsaure Gutmenschentum wieder und wieder der Nase nach durch die Debatten-Manege führen, das kann er eben. Doch damit nicht genug, der OB würzt die Vorführung mit einer Volte mehr, wechselt wieder auf sein Hauptprofil und zitiert Nadine P.’s Bericht als Boris Palmer, sogar – und vielleicht wollte er in der Rückschau genau ab da zuviel – ohne Anführungszeichen. Als er gestern erklärt, dass er mit diesem ironischen Zitat auf die generelle Konstruierbarkeit jedweder Rassismusvorwürfe aufmerksam machen wollte, wird das Parteiausschlussverfahren bereits vorbereitet.
Auf den Ascheplätzen der Kreisliga gab es damals eine einfache Regel: Wenn einer so übertrieben zaubert, dass es in arrogante Demütigung umschlägt, wird er umgetreten. Und es fällt mir noch eine Analogie ein, nämlich das Märchen des Ikarus, jenem Wachsflügelmann also, der der Sonne zu nahe kam und abstürzte.
Und plötzlich wurde es Nacht.
Good night and good luck,
Dax Werner
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